Folgen einer Ausgangssperre Vom Segen der Quarantäne

Düsseldorf · Zwangsweise zu Hause wegen Corona – für viele Menschen werden die kommenden Tage unter besonderen Bedingungen stehen. Die Ausgangssperre schützt andere und einen selbst. Sie kann unerwarteten Gewinn bringen.

 Das Hotel H10 Costa Adeje Palace, auf dessen Balkon Gäste stehen. Das wegen Coronavirus-Fällen unter Quarantäne gestellte Hotel auf Teneriffa ist weiterhin durch die Polizei abgeriegelt.

Das Hotel H10 Costa Adeje Palace, auf dessen Balkon Gäste stehen. Das wegen Coronavirus-Fällen unter Quarantäne gestellte Hotel auf Teneriffa ist weiterhin durch die Polizei abgeriegelt.

Foto: dpa/Arturo Rodriguez

Das Wort von der inneren Einkehr bekommt in diesen Tagen eine neue Dimension. Jetzt kümmert sich mancher Mensch nicht um seine Spiritualität, um Meditation und Ruhe. Er kehrt ein, weil er muss: 14 Tage Quarantäne daheim. Oder im Hotelzimmer. Oder auf dem Kreuzfahrtschiff.

Dass diese behördlich angeordnete Unterbrechung von Infektionsketten mit dem Beginn der Fastenzeit zusammenfällt, besitzt eine gewisse Konsequenz. Der Karneval als fünfte Jahreszeit hat in einer Ortschaft am linken Niederrhein für eine unklare Situation gesorgt. Die mittlerweile legendäre Karnevalssitzung in Gangelt-Langbroich kann einen ungeahnten Schneeball­effekt von Infektionen auslösen, dessen Folgen in den kommenden Tagen und Wochen zu spüren sein werden. Es kann aber auch sein, dass die Situation entspannt bleibt und nur ein paar Leute ein Hüsterchen und 37,4 Grad Temperatur bekommen. Jedenfalls haben dort jetzt Hunderte Menschen Ausgangssperre. Sie warten ab, ob sie Symptome bekommen oder nicht.

Weil über die Entwicklung in Deutschland niemand verlässlich Auskunft geben kann, befinden wir uns in einer Art Transitzone unseres Sicherheitsbedürfnisses. Ist das Virus schon in Mönchengladbach, der Großstadt nebenan, angelangt? Hat ein Arzt der Kliniken Maria Hilf es ungeahnt an Patienten weitergehustet? Und von wem hat er selbst es empfangen? Wer ist überhaupt der Patient null? Laufen „da draußen“ möglicherweise Menschen herum, die komplett symptomfrei, aber trotzdem ansteckend sind?

Diese diffuse Informationslage befeuert in diesen Tagen die Angstbereitschaft vieler Menschen, das sollte niemand unter- oder gar geringschätzen. Hamsterkäufe von Desinfektionsflüssigkeit, Mundschutz und Ravioli in der Dose sind milde Vorstufen eines Prepper-Szenarios, das die Katastrophe in Bälde kommen sieht. Vielleicht ist es aber auch vernünftig, sich mit nützlichen Produkten einzudecken; man kann nie wissen, was das Coronavirus einem noch einbrockt.

Die Ausgangssperre hat aber noch andere Aspekte jenseits der infektionsmedizinischen Erfordernis. Die Menschen, die jetzt zu Hause bleiben müssen, haben einiges zu organisieren. Aber sie sind nicht so radikal abgeschottet und ihrem Untergang ausgeliefert wie die Bürger von Oran in Albert Camus‘ düster-gewaltigem Roman „Die Pest“. Das Coronavirus ist zwar noch in vielen Facetten ein Rätsel, aber doch kein Killer wie das Ebola- oder das Lassa-Virus. Die allermeisten Infizierten überleben es. Vor allem gibt es für Nicht-Infizierte gegen das Coronavirus eine Vielzahl bewährter Mittel, vom regelmäßigen Händewaschen und Klinkenputzen, vom richtigen Husten in die Armbeuge oder in das vorgehaltene Taschentuch bis hin zur Vermeidung von Menschenansammlungen. Mancher grüßt auch nur noch fernöstlich, faltet die Hände vor der Brust und verneigt sich. Ist nicht unklug.

Halt! Kann Isolationismus der richtige Weg sein? Fährt bald niemand mehr mit Bus oder Bahn? Werden deshalb Umweltspuren wieder aufgehoben werden müssen? Wird Homeoffice zur von Viren erzwungenen Arbeitsform in künftigen Wintern? Erstaunlich viele Menschen halten sich derzeit von der Öffentlichkeit fern, lassen Tickets für Fußballspiel, Konzert oder ICE verfallen – der niesende Sitznachbar könnte ja eine Tante haben, die mit einer Freundin aus Gangelt-Langbroich Canasta spielt. Das Irrationale solcher Kalkulation ist dem Menschen nicht auszureden, er ist halt so. Schädlich ist diese Haltung indes nicht. Wenn wir für die Dauer der Fastenzeit alle häufiger daheimblieben, statt von hustenden Menschen per Tröpfcheninfektion behelligt zu werden, wären Corona und Influenza alsbald eine endliche Geschichte.

Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut sagt: „Quarantäne von ganzen Ortschaften kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen.“ Menschen mit Lebensmitteln, Wasser und ärztlicher Hilfe zu versorgen, sei in einem Quarantänegebiet sehr schwierig, erläuterte er in einem ZDF-Interview. Andererseits ist die personalisierte Quarantäne für nachgewiesen oder potenziell Infizierte, wie sie hierzulande derzeit praktiziert wird, die sicherste Möglichkeit, abzuwarten und ihre eigene Genesung voranzutreiben, ohne dabei für andere zur Gefahr zu werden.

In diesen Zeiten zeigt sich dann auch der Wert der Nachbarschaft: Wäre es nicht wunderbar, wenn einer, der seine Wohnung hüten muss, von Frau Müller aus dem ersten Obergeschoss einen Laib Brot, Margarine, Käse und Obst eingekauft bekommt? Jeder Mensch sollte für den Fall seiner Abschottung einen guten Geist kennen, der ihm als Lieferant beisteht und Frischwaren vor die Haus- oder Wohnungstür stellt. Jeder sollte eine Frage testweise auszusprechen üben: „Würden Sie für mich einkaufen gehen? Ich darf nicht.“

Quarantäne ist ein unschönes Wort, das an keimfreie Räume in finsteren Gebäudetrakten erinnert. Aktuell ist Quarantäne – sofern man in diesen 14 Tagen nicht ernstlich erkrankt – eine unverhoffte Spende von unbestellter, aber gewonnener Zeit. Mancher kann möglicherweise Dinge abarbeiten, die seit langem unerledigt herumlagen.

Was das mit der Fastenzeit zu tun hat? Nun, im Französischen wird mit „quarantaine de jours“ der Zeitraum von 40 Tagen bezeichnet. Genauso lange dauert die Fastenzeit, die man sich durchaus als freiwillige Quarantäne vorstellen darf, die einen vor den leiblichen und spirituellen Keimen der Welt schützt, nicht umgekehrt.

Die Welt möchte viel mit uns anstellen, darauf ist unsere digitale Beeinflussungsgesellschaft programmiert. Bis Corona vorbeigezogen ist, sollten wir den Segen der Quarantäne zu schätzen wissen und es in Abwandlung des Aufklebers vor der Wursttheke mit einer freundlichen Abwehrgeste halten: Wir müssen leider drinnen bleiben!

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