Drama in Dänemark-Spiel Das vermuten Kardiologen hinter dem Kollaps von Christian Eriksen

Kopenhagen · Es war der Schock-Moment dieser noch jungen Fußball-Europameisterschaft. Was hat zum Kollaps des dänischen Fußball-Nationalspielers Christian Eriksen geführt? Kardiologen wissen genau, wie sie nach den Ursachen suchen müssen. Wir haben einige Experten aus der Region gefragt.

EM 2021: Nach Eriksens Zusammenbruch stärken Spieler und Fans den Dänen
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Spieler und Fans richten emotionale Botschaften an Eriksen

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Foto: AP/Marko Djurica

In diesem Moment hatte in Krefeld der Kardiologe Dong-In Shin eine lebhafte Erinnerung. Er dachte ans Jahr 2004 zurück – an jenen Moment, da der ungarische Nationalspieler Miklós Fehér in einem Spiel seines Vereins Benfica Lissabon mit 25 Jahren einen plötzlichen Herztod erlitt. Shin: „Fehér war vorher an einem Infekt der oberen Luftwege erkrankt, den er nicht auskurierte. So entwickelte sich eine Herzmuskelentzündung, die beim Spiel in ein Kammerflimmern umschlug.“ Das ist die lebensgefährliche Form einer Herzrhythmusstörung. Fehér hatte keine Chance, ein Defibrillator war nicht in der Nähe.

„Sudden Cardiac Death“ nennen Kardiologen den plötzlichen Herztod. Bei Eriksen werden sie jetzt eine Fahndungsliste möglicher Ursachen abarbeiten. Dabei sind die Beobachtungen und Augenzeugenberichte jener Kopenhagener Minuten hilfreich. Eriksen hatte nach seinem Kollaps, so heißt es, einen leicht tastbaren Puls und reagierte noch schwach, als sich die Ersthelfer um ihn zu kümmern begannen. Dann verschwand der Puls. Die sofortige Herzdruckmassage und vor allem der baldige Einsatz eines Defibrillators waren erfolgreich, weil das Gerät genau das tat, wofür es entwickelt ist: Es entdeckte ein Kammerflimmern und gab einen adäquaten Stromstoß ab. Durch diesen Schock kehrte Eriksen ins Leben zurück.

Shin ist Chefarzt für Herzrhythmus-Krankheiten am Helios-Klinikum Krefeld und hat wie viele Experten seiner Branche Vermutungen, was bei Eriksen vorgefallen sein könnte. Dies ist das Wesen ärztlicher Kunst und der Differenzialdiagnose: das Naheliegende prüfen und das Entlegene trotzdem auf dem Schirm haben. Kostenpflichtiger Inhalt Shin vermutet bei Eriksen „ganz sicher ein rhythmologisches Ereignis“, und „ganz gewiss wird es etwas Seltenes sein“, und zwar eine jener angeborenen Herzkrankheiten, die auch beim Check-up eines Leistungssportlers unbemerkt durchgehen können.

Eriksen spielt bei Inter Mailand und bekommt regelmäßig ein EKG in Ruhe und unter Belastung sowie eine Echokardiografie, einen Herz-Ultraschall. „Da sieht man schon sehr viel. Wenn Eriksen beispielsweise einen Herzklappenfehler hätte, wäre der im Ultraschall aufgefallen“, glaubt Anja Dorszewski, Chefärztin am Marien-Hospital in Bottrop. Andererseits gibt es kardiale Ereignisse, die erstmals auftreten, bevor ein Bild sie zu fassen vermag. Dazu zählt laut Shin und Dorszewski die ARVC (arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie). Hierbei lagern sich Bindegewebe und Fett in die Herzkammermuskulatur ein, wodurch sich der Herzschlag im Belastungsfall so unbarmherzig beschleunigen kann, dass er ins Kammerflimmern umspringt. Das Typische für die ARVC: Sehr oft sind junge Menschen betroffen, Männer häufiger als Frauen. In manchen Ländern (etwa Italien) gilt diese angeborene Herzerkrankung als häufigste Ursache für den plötzlichen Herztod junger Sportler.

Heribert Brück, Kardiologe in Erkelenz, hatte bei Eriksen ebenfalls einen Anfangsverdacht: „Mir fiel sofort eine Ionenkanal-Erkrankung ein.“ Ionenkanäle sind Proteine, winzige Eiweißporen in der Wand der Herzmuskelzellen, die unter anderem dafür sorgen, dass sich der Herzmuskel regelmäßig zusammenzieht und danach wieder erschlafft. Dabei spielen die sogenannten Elektrolyte (Kalium, Natrium, Magnesium, Chlorid und andere) eine stimulierende Rolle. Wenn sich die Geschwindigkeit etwa des Ausstroms von Kalium-Ionen aus den Herzmuskelzellen verlangsamt (im EKG ist da eine Teilstrecke auffällig länger), wird das gefährlich.

Für Laien sieht ein EKG aus wie eine Höhenkarte Deutschlands: viel Flachland, kleine Mittelgebirge, neue Täler, dann zackige Berggipfel, denen Felsspalten folgen. Und das in regelmäßiger Wiederholung. Jeder EKG-Veränderung ist ein Buchstabe zugeordnet, und wenn sich da an Tempo und Rhythmus etwas ändert, wird der Kardiologe aufmerksam. Wenn die Strecke vom Buchstaben Q zum Buchstaben T länger ist als im kardiologischen Gesetzbuch, dann denkt der Experte an das sogenannte Long-QT-Syndrom, das blitzschnell zu einem Herzrasen oder gar zum Kammerflimmern entarten kann – dann ist nur noch Zacken-Chaos auf den Bildern. Wichtig zu wissen: Auch Medikamente können dieses Long-QT-Syndrom auslösen. War das bei Eriksen der Fall?

Über die Causa Eriksen hinaus empfiehlt Mirja Neizel-Wittke, Chefärztin an den Städtischen Kliniken in Mönchengladbach, auch an eine Koronar-Anomalie zu denken. Hierbei zeichnen sich die Herzkranzgefäße durch einen unüblichen Ursprung oder Verlauf aus, das kann über Jahre unauffällig bleiben, aber ebenfalls zum plötzlichen Herztod führen – weil eine solche Anomalie etwa bei einem strapaziösen Fußballspiel zu einem Quasi-Infarkt durch Minderdurchblutung führen kann. Dann arbeitet der Muskel nicht mehr richtig, wodurch der Rhythmus ins Stolpern und dann ins Flimmern geraten kann. Das Tückische: Oft gibt es keinerlei Warnsignale, und einem Herz-Echo sieht man Koronar-Anomalien auch nicht an. Für genauere Innenaufnahmen muss man CT- oder MRT-Geräte auffahren. Eriksen wird sie jetzt kennenlernen. Ganz sicher wird er zudem molekulargenetisch gescreent.

Christoph Heyer, Sportmediziner und Stadionarzt bei Borussia Mönchengladbach, glaubt, dass in Kopenhagen alles perfekt gelaufen ist: „Die Ersthelfer begannen nach dem ersten Schreck schnell mit der Herzdruckmassage, auch der Defi kam früh zum Einsatz.“ Alles verlief nach Plan: „Solche Abläufe werden auch bei uns regelmäßig durchgespielt.“

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