Medizin der Zukunft Apps auf Rezept – Experten fordern Tempo
Düsseldorf · Wir zählen zwar gerne Schritte oder Kalorien, aber ansonsten ist noch viel Luft nach oben in Sachen Digitalisierung und Datennutzung. Was es mit den Gesundheits-Apps, den Digas, auf sich hat.
Es gibt sie in allen Farben und Formen, in High-Tech-Ausführung oder ganz simpel: Schrittzähler, Pulsmessgeräte, Fitnesstracker, GPS-Uhren – das digitale Zeitalter ist längst auch in unserem medizinischen Alltag angekommen. Wir messen Distanzen, stoppen Zeit, zählen Schritte, sammeln Punkte und archivieren Trainings-Fortschritte. Angst vor Daten haben wir nicht. Und dennoch könnte man so viel mehr damit erreichen als das bloße Sammeln für den privaten Gesundheitsplan. „Daten retten Leben“, sagt Georg Ertl. Der Internist und Kardiologe ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin (DGIM), die sich die Themen Datenschutz und -nutzen sowie Digitalisierung in der Medizin auf das Jahresprogramm 2023 geschrieben hat.
„Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, was die optimale Nutzung von Patientendaten bringen kann“, sagt der Mediziner. Nie zuvor war die Forschung so schnell und effektiv wie während der Pandemie. Das Ergebnis ist bekannt: gleich mehrere zugelassene Covid-Impfstoffe in Rekordzeit. Als Beispiel nennt Mediziner Ertl eine englische Studie, die während der Pandemie innerhalb weniger Wochen zu konkreten Ergebnissen geführt hatte: Ertl: „Vom Entwurf des Protokolls bis zum Beginn der Studie vergingen gerade einmal neun Tage, der Nachweis einer ersten lebensrettenden Therapie erfolgte zehn Wochen danach, die Anerkennung als Standardtherapie von der Nationalen Gesundheitsbehörde NHS nach weiteren drei Stunden.“ Letztlich sei für vier Therapien die Wirksamkeit nachgewiesen worden, sieben weitere konnten als unwirksam identifiziert werden.
Ertl wünscht sich mehr Tempo vor allem auch bei der elektronischen Patientenakte (ePA). Gerade einmal 0,7 Prozent der gesetzlich Versicherten (circa 550.000 Menschen) in Deutschland verfügen laut DGIM über die ePA. Dabei sind die Deutschen durchaus aufgeschlossen: Eine 2022 veröffentlichte Befragung zeigte, dass rund 80 Prozent der Bevölkerung ihre Gesundheitsdaten der medizinischen Forschung zur Verfügung stellen würden. „70 Prozent wollen sie in die elektronische Patientenakte aufgenommen haben“, so Ertl.

Die zehn größten Rücken-Irrtümer
Die größte Hürde sind seiner Ansicht nach der Datenschutz und die Zersplitterung der Zuständigkeiten in den einzelnen Bundesländern. „Das Wichtigste ist die sinnvolle Kombination von routinemäßig erhobenen medizinischen Daten und spezifischen Daten“, betont der Facharzt. „Wir brauchen kontrollierte Studien. Alles andere wäre ein Schritt zurück ins medizinische Mittelalter.“
Auf digitale Gesundheitsanwendungen, kurz Digas, setzt Martin Möckel von der Berliner Charité. Der ärztliche Leiter der Notfall- und Akutmedizin sieht hier ein großes Potenzial. Digas sind laut DGIM eine deutsche Innovation. Dies sind etwa Apps, die in der Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgeführt sind und von Ärzten verordnet und über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden können.
40 unterschiedliche Digas können Ärzte aktuell verordnen, lediglich 15 davon sind bisher dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen worden. Vor allem in der Behandlung von Depression, Angststörungen und bei psychosomatischen Krankheitsbildern können diese Anwendungen die Behandlung des Patienten unterstützen. In den allermeisten Fällen verordne der Arzt solche Apps, an Frauen unter 60 Jahre, so Möckel. Ein konkretes Beispiel ist etwa die App „HelloBetter“ bei Diabetes und Depression. „Vivira“ verschreibt der Orthopäde bei Rückenschmerzen, und mit „zanadio“ kann der Hausarzt die Patientin mit Adipositas unterstützen.
Das noch ein Stück weit entfernte Ziel nennt Möckel „Diga 2.0“. Heute ist es so, dass solche Apps in erster Linie Daten liefern und gewisse Informationen für den Arzt verfügbar machen. Was fehlt, sind Daten für Analysen in Studien. Und: „Diese Apps sind noch nicht wirklich intelligent“, sagt Möckel. Ein echter Mehrwert würde daraus erst, wenn eine Diga ein differenziertes Feedback geben könnte. „Also etwa eine App, die den Patienten filmt, wie er sein Asthmaspray nimmt und dann auch bei Bedarf direkt korrigiert. Oder eine Künstliche Intelligenz, die über Sensoren Stoffwechselprozesse steuern könnte, zum Beispiel bei Diabetikern.“
Sein Fazit: „Wir haben den Fuß in der Tür zur digitalen Medizin.“ Jetzt müsse man die nächsten Schritte gehen.