Berufsalltaglltag als Friedhofsgärtner Zwischen Gräbern und Gruften

Münster · Im November ist es dort, wo die Toten liegen, am lebendigsten. Auf dem Friedhof herrscht Hochbetrieb. Einer kann dann endlich die Beine hochlegen. Der Friedhofsgärtner hat die stressigste Zeit des Jahres überstanden.

Tino Binder hat zweimal zwei Meter, um Trost zu spenden. So groß ist ein Grab auf dem Zentralfriedhof in Münster. Er ist Friedhofsgärtner - "Zauberer" und "der Feinmechaniker unter den Gärtnern", wie er sagt, während er flink mit den Fingern ein Loch nach dem anderen in die fluffige Erde drückt und Pflänzchen mit sattgrünen Blättern hineinstopft. Der Alltag zwischen Gräbern und Gruften ist für den 36-Jährigen normal. Aber: "Viele weinen, wenn sie nach der Beerdigung mit mir über die Pflanzen für das Grab sprechen", erzählt er. "Daran gewöhnt man sich nie." Als er aufsteht, bleiben von seinen Knien zwei Mulden in der Erde zurück.

In dieser Nacht hat es gefroren. Dünne Nebelschwaden ziehen über den Friedhof mit seinen 65.000 Gräbern. Hier liegen Prominente wie Jürgen W. Möllemann, der Künstler Blinky Palermo und der frühere Kölner Fußballprofi Maurice "Mucki" Banach, der 1991 bei einem Autounfall starb. Den in viele Pulli-Schichten eingepackten Gärtner stört der eisige Wind nicht, als er im offenen Gefährt mit Anhänger über die schmalen Wege rattert. Auf die rasselnde Kälte im tiefen Winter kann er aber gut verzichten. "Dann habe ich Urlaub."

"Das Dreamteam vom Friedhof"

An Urlaub ist in diesen Tagen nicht zu denken. "Allerheiligen ist Hochsaison auf dem Friedhof", sagt Tino. "Richtig hoch", sagt sein Partner Ilidio Behler. Mit dem gebürtigen Portugiesen arbeitet Tino seit fast zehn Jahren zusammen, berät Angehörige, bepflanzt Gräber und tauscht die Blumen je nach Jahreszeit aus: "Vergissmeinnicht im Frühjahr, Begonien im Sommer, Heide im Herbst. Zum Beispiel." Die beiden sind "das Dreamteam vom Friedhof", sagen sie.

Die Terminkladde des Gärtnermeisters ist mit wild bekritzelten Auftragszetteln gefüllt. Darauf guckt er, als er vor einem Grab Halt macht. "Ah, der Cotoneaster", murmelt Tino. Der große, blonde Mann mit der eckigen Brille nennt alle Pflanzen bei ihren lateinischen Namen; sagt nicht Kriechmispel sondern Cotoneaster. Der "Coto" mit seinen winzigen dunkelgrünen Blättern muss heute runter vom Grab.

"Eine Strafarbeit", wie Ilidio kurz darauf feststellt. Der 47-Jährige steht breitbeinig auf dem Grab und reißt mit beiden Händen an der Pflanze, nachdem Tino einige daumendicke Wurzeln mit der Schüppe zerhackt hat. Dem rinnen Schweißperlen die Schläfen entlang.

Wenig später hat Ilidio Angst um seine Finger, als sein Kollege mit einer schweren Axt auf die störrischen Pflanzen eindrischt. Da! Das Wurzelwerk löst sich, Tino fliegen Erdbrocken ins Gesicht. Er zieht seine Vliesjacke aus. Als nächste Schicht kommt ein Sweatpulli zum Vorschein. Die Morgensonne leuchtet durch die Baumkronen und taucht den Friedhof in ein goldenes Licht.

"Das Image ist ein großer Nachteil"

"Es ist toll, immer draußen zu sein", sagt Tino. Auch wenn im Sommer die Mücken pieksen "wie Harry" und im Winter die Nase läuft. "Der Job ist nicht nur wichtig, sondern auch schön", findet er. Extra ausgebildete Friedhofsgärtner wie ihn, noch dazu Meister, gebe es trotzdem nur wenige. "Das Image ist ein großer Nachteil. Wir brauchen Leute, aber wir kriegen keine. Komisch ist das."

Einige Meter vor dem nächsten Grab stoppt Tino abrupt seinen Wagen mitten auf dem Weg und spitzt die Ohren. Glockengeläut. "Eine Beerdigung, da sollten wir nicht stören." Hundert Meter weiter kommt ein Leichenwagen zum Vorschein, dahinter ein kurzer Trauerzug. Geduldig wartet der Gärtner ab und beobachtet die Trauernden.

"Der Friedhof zieht einige komische Menschen an", sagt Binder, als er sich schließlich das Käppi zurechtrückt und den röhrenden Motor wieder anschmeißt. "Einen nennen wir den ewigen Beeter. Niemand kennt ihn, aber er geht bei jeder Beerdigung mit", erzählt der 36-Jährige. Dann heule er immer ganz jämmerlich und werfe Blütenblätter in das Grab. "Als mein Opa beerdigt wurde, war er auch da."

Mittags sitzen die elf Friedhofsgärtner der Firma Dziuk zusammen in einem kleinen Raum, an drei Tischen mit gemusterten Wachsdecken. Auf einem liegt ein kleines Portugiesisch-Wörterbuch. An der Wand hängt ein Playboy-Kalender. Darunter hat einer die Arme vor der Brust verschränkt und ist eingenickt. Ilidio isst drei Brötchen aus einer riesigen Tupperbox und erzählt von seinem Hund Leila, einer Mischung aus Spitz und Terrier. Tino isst draußen Leberwurstbrötchen.

Außergewöhnlich und extravagant

Als Ilidio zurückkommt, wandert Tino schon im Hof der Gärtnerei zwischen Regalen auf und ab und pflückt Pflanzentöpfe von Paletten. Blauschwingel, Currykraut, Pfeifenputzergras. "Alles, was ein bisschen außergewöhnlich, extravagant ist", sagt er. Damit bestückt der 36-Jährige ein neues Grab, das er gerade zur Pflege bekommen hat.

Auf dem Granitstein ist ein Foto von dem Toten angebracht, sein Name steht in silbernen Versalien daneben. Tino zeichnet mit dem Stiel einer Harke Linien in die Erde. In der Mitte formt er einen Hügel. Ilidio reicht ihm Salbei und Hornveilchen und pfeift dabei ein Lied. "Mäuschen, was jetzt?" fragt er. Ein Kunstwerk aus Pflanzen entsteht. Zum Schluss streut Tino mit dreckigen Fingern Pinienrinde - "Zauberpulver" - über das Grab. "Dann wirkt es sofort ganz anders."

Tinos Handy schellt, sein Chef ist dran. Eine Dame möchte das Grab ihrer Mutter in Pflege geben. Beim ersten Kundengespräch sei ihm manchmal noch mulmig, sagt Tino. "Da braucht man Feingefühl." Er frage nicht, wer gestorben sei. "Aber viele erzählen das von sich aus." Ihnen tue es gut, nochmal mit jemandem darüber zu reden.
"Schlimm wird es, wenn es Kinder sind. Das kann ich nicht gut haben." Oft frage er nach den Lieblingsblumen, sagt Tino.

Viele Angehörige bleiben Tino treu. Eine besucht er vor seinem Gespräch noch, während Ilidio eifrig Erdreste von der Grabfassung fegt ("Besser einmal zuviel als einmal zu wenig!"). Ursula Lehmkuhl ist eine alte, patente Dame in einer etwas zu großen Winterjacke. Sie steht neben dem Grab ihres Mannes, eine Plastiktüte am Arm, die sie flink Tino in die Hand drückt. "Schon wieder eins?" fragt der.

Kuscheltier als Geschenk

Seit der Geburt seines Sohnes bringt Frau Lehmkuhl ihm immer ein Kuscheltier mit. Diesmal einen Teddy in einem knallroten T-Shirt. "Schön, dass es dich gibt", steht drauf. "Jaja", sagt Lehmkuhl. "Bin froh, dass es dich gibt, brauchste gar nicht so zu gucken." Immer sei Tino gut gelaunt, plaudert die 82-Jährige. "Es gibt keinen Besseren."

Der Friedhofsgärtner, der sie um einen halben Meter überragt, steht mit gesenktem Blick daneben, verlegen. Aber Frau Lehmkuhl plappert schon weiter. Über die Enkelkinder, die Physik und Chemie studieren. Steinbrück und seine Nebenverdienste. Die letzte Ausgabe von "Wer wird Millionär?". Tino steht da und hört zu.

(dpa)
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