Arbeitsmoral Wenn „Aufschieberitis“ zu einem echten Problem wird

Den Kunden anrufen, das Protokoll fertigstellen: Das landet auf der To-do-Liste gerne ganz unten. Wer immer nur aufschiebt, obwohl er es besser wüsste, leidet unter Prokrastination.

 Lieber aus dem Fenster gucken, als mit der Arbeit anzufangen: Prokrastination kann zu einem echten Problem werden.

Lieber aus dem Fenster gucken, als mit der Arbeit anzufangen: Prokrastination kann zu einem echten Problem werden.

Foto: dpa-tmn/Franziska Gabbert

„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“: Mit dem viel zitierten Sprichwort können Menschen, die zum Prokrastinieren neigen, erdenklich wenig anfangen. Der Wirtschaftspsychologe Florian Becker beschreibt Prokrastination als „das irrationale Verzögern oder Unterlassen einer Tätigkeit ohne Rücksicht auf die zu erwartenden negativen Konsequenzen“.

Das geschieht nicht aus Unwissenheit oder Faulheit, sondern, weil sich Menschen mit der umgangssprachlichen „Aufschieberitis“ schlichtweg nicht dazu aufraffen können oder lieber andere Dinge tun. Jemand lernt nicht, obwohl er weiß, dass bald eine Klausur ansteht. Oder jemand surft lieber im Internet, obwohl er weiß, dass die Führungskraft auf die Quartalszahlen wartet.

Besonders anfällig dafür seien Menschen, die das Glück haben, in ihrem Job viel Handlungsfreiraum zu haben, sagt Anna Höcker, Psychologin, Coachin und Buchautorin. Führungskräften kann es da genauso gehen wie Studenten. Hier ist gute Selbststeuerung gefragt. „Funktioniert sie nicht oder ist sie nicht gut trainiert, steigt das Risiko für Prokrastination.“

Besonders schwierig ist das im Homeoffice. Anna Höcker hat zehn Jahre lang die Prokrastinationsambulanz der Universität Münster geleitet und dort einen Selbsttest entwickelt. „Gelegentliches Aufschieben ist in der Regel unproblematisch, und nicht jeder, der gelegentlich mal aufschiebt, hat ein Problem“, sagt sie. Die inneren Alarmglocken sollten aber schrillen, wenn man sich wegen des Verschiebens immer wieder über sich selbst ärgert und nur noch selten entspannt seine Freizeit genießen kann. Etwa, weil man ständig an die aufgeschobene Arbeit denkt. Oder wenn Deadlines – wenn überhaupt – nur unter großem Druck eingehalten werden können.

„Aufschieben wird dann zum Problem, wenn es chronisch und exzessiv wird und sich immer wieder negativ auf Ihr Wohlbefinden und Ihre Zufriedenheit auswirkt“, sagt Höcker. Bei vielen geht es so weit, dass auch persönlich wichtige Ziele beeinträchtigt sind.

Zudem leidet die Arbeitsfähigkeit. „Menschen, die ständig aufschieben, haben nicht nur Stress und Schuldgefühle, sie sind auch weniger erfolgreich im Studium und im Beruf, sie leisten weniger, sie verdienen weniger und sie sind eher single“, sagt Florian Becker. Anfällig können zum Beispiel Menschen sein, die sich schnell langweilen oder eine schwach ausgeprägte Impulskontrolle haben. „Eher immun sind diejenigen, die an die eigene Kompetenz glauben und selbstbewusst sind.“

Sobald Prokrastinierer vor einer Aufgabe stehen und Druck spüren, suchen sie unbewusst nach einem Ausweg: „Sie betäuben entweder ihr Gefühl durch Ablenkung oder suchen eine andere Aufgabe, die ihnen ein schnelles Erfolgserlebnis gibt“, sagt der Psychologe. Das heißt: Sie räumen den Schreibtisch auf, vertiefen sich in ein Computerspiel oder chatten durch soziale Netzwerke.

Mit Faulheit hat das nichts zu tun. Eher mit mangelnder Impulskontrolle und damit, dass man jedem Reiz sofort nachgibt. „Das Perfide ist, dass das Gehirn lernt: Wenn du Druck hast, hilft mir das. Aber wenn der Druck weiter steigt, dann musst du noch mehr Netflix schauen, noch mehr Computerspielen ...“, sagt Becker.

Wie aber schafft man es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen? „Es mag sich trivial anhören“, sagt der Wirtschaftspsychologe. „Aber es bedeutet: Anfangen, einfach starten. Denn genau das ist ja das Problem.“ Und wenn es nur fünf Minuten sind, die man lernt oder an den neuen Zahlen sitzt: Wichtig ist, überhaupt diesen Anfang zu schaffen.

Dabei hilft natürlich, die systematischen Ablenkungen abzustellen. Etwa, indem man die eigene Zeit auf sozialen Medien reduziert oder ein festes Zeitfenster für die Nutzung festlegt. Nicht zuletzt ist alles eine Frage des Trainings: Je öfter es gelingt, mit einer aufgeschobenen Tätigkeit anzufangen, desto länger kann man irgendwann durchhalten.

Wichtig ist, sich nicht von falschen Glaubenssätzen leiten zu lassen, wie: „Das Projekt ist so wichtig, ich kann nur daran arbeiten, wenn ich in der perfekten Stimmung dafür bin.“ Oder: „Ich kann nur unter Druck arbeiten.“

Für Anna Höcker sind es genau solche Gedanken, die Menschen hindern, mit Leichtigkeit an ihre Arbeit zu gehen. Ihr Tipp: Prioritäten setzen. Das sei besser, als sich in langen Listen und Details zu verzetteln. Sollte die Aufgabe unwichtig sein, könne man sie auch gleich ganz von der Liste streichen – und zwar ohne schlechtes Gewissen, so die Psychologin und Coachin.

Übrigens: Auch jene Menschen, die sofort immer alles erledigen, die also „prekrastinieren“, haben es nicht immer leichter. Im Gegenteil. „Wer immer rein reaktiv ist, verliert oft die Orientierung“, sagt Florian Becker. Wenn man im vorauseilenden Gehorsam alles sofort abarbeitet, bedeutet es nicht, dass das die Felder sind, mit denen man am meisten Punkte macht. Anders formuliert: „Du musst wissen, was wirklich wichtig ist.“ Und dann anfangen.

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