Architektur Einzigartige Jugendstil-Architektur in Riga

Beim Stichwort Jugendstil hat man sofort Straßenzüge in Paris, Wien oder Barcelona vor Augen. Dabei hat Riga einige der kühnsten Gebäude dieser Epoche.

 Die Bürgerhäuser in Riga gehören zum Kühnsten, was der Jugendstil in Europa hervorgebracht hat.

Die Bürgerhäuser in Riga gehören zum Kühnsten, was der Jugendstil in Europa hervorgebracht hat.

Foto: fotojanis/Shutterstock.com

<p>Beim Stichwort Jugendstil hat man sofort Straßenzüge in Paris, Wien oder Barcelona vor Augen. Dabei hat Riga einige der kühnsten Gebäude dieser Epoche.

Beim Stichwort Jugendstil hat man sofort Straßenzüge in Paris, Wien oder Barcelona vor Augen. Dabei hat Riga einige der kühnsten Gebäude dieser Epoche. Im nächsten Jahr wird die lettische Hauptstadt europäische Kulturhauptstadt.

Mit dem Schicksalsjahr 1914 endete eine goldene Epoche der Stadtgeschichte, die ihr Gesicht bis heute prägt: Riga ist auch eine europäische Hauptstadt des Jugendstils, rund 800 Gebäude, ein Drittel des Stadtzentrums, stammen aus dieser Boom-Zeit. Allein das war der Unesco eine Eintragung in die Liste des Weltkulturerbes wert.

Kühner Jugendstil

Die Bürgerhäuser in der Albert- und der Elisabethstraße gehören zum Kühnsten, was der Jugendstil in Europa hervorgebracht hat. Größter Virtuose der dortigen Formenvielfalt ist der Architekt Michail Eisenstein (1867-1921), ein deutschbaltischer Jude und Vater des berühmten sowjetischen Filmregisseurs Sergei Eisenstein ("Panzerkreuzer Potemkin"). In seinen Mietshäusern, mit denen er die Albertstraße quasi im Alleingang gestaltete, entfaltete er ein überbordendes Fassadenpanoptikum: meterhohe Medusenhäupter mit offenen Mündern, brüllende Löwen, Sphingen, Blumenranken wie Stein gewordene Wasserfälle - Fantasie bis an den Rand der Parodie.

Kaum ein Stückchen Stuck ist ohne Ornament geblieben und überhaupt schuf Eisenstein, anders als viele andere Künstler des Jugendstils, zuerst seine spinösen Fassaden, dann erst machte er sich Gedanken über das Leben der Bewohner dahinter, sprich den Zuschnitt oder die Gestaltung der Wohnungen.

Gerade Linien vermeiden

Mit der Industrialisierung erlebte das über Jahrhunderte deutsch geprägte Riga eine Blüte und einen beispiellosen Zuzug; die Bevölkerungszahlen explodierten. Wie in vielen anderen Städten Europas wurden in diesen Jahrzehnten die Stadtbefestigungen niedergelegt und völlig neue Viertel entstanden.

Der Anspruch der Menschen des neuen Jahrhunderts "modern" sein zu wollen bedeutete für kreative Architekten, das bekannte Terrain der historisierenden Formensprache zu verlassen und sich kurzlebigen Trends hinzugeben. Der Jugendstil ist aus heutiger Rückschau einer dieser Moden. Junge Künstler wurden beauftragt, Visionen für neue Wohnviertel, Warenhäuser und öffentliche Gebäude zu schaffen, um der Stadt ein modernes Gesicht zu geben. Viele ihrer Baugerüste dürfte noch der kleine Heinz Erhardt bestaunt haben. Der Komiker und Dichter wurde im Februar 1909 in Riga geboren.

Vor allem eines wollten die Vertreter der "Neuen Kunst" (Art Nouveau) vermeiden: gerade Linien. Die Natur mit ihren Formen und Bewegungen war für die Jugendstil-Künstler das Maß aller Dinge, und die Natur kennt nun mal keine geraden Linien und nur wenig Symmetrie. Die Modernität und Eleganz der "Neuen Kunst" ist auch nach über 100 Jahren noch mit Händen greifbar.

Mangel an Wohnraum ließ Jugendstilhäuser überleben

Nachdem mit dem Ersten Weltkrieg die kurze, wuchernde Blüte des Jugendstils endgültig verwelkte, gingen viele Meisterwerke den Weg alles Irdischen und Modischen:Sie wurden entsorgt - im Fall von Kleinmöbeln und Wohnaccessoires - oder eben vernachlässigt. Im Riga der Sowjetzeit fristeten die Albert- und die Elisabethstraße ein klägliches Dasein - wenn man das Sprießen von Birken aus den kunstvollen Fassaden nicht als Symbol für das Wiederaufkeimen des lettischen Nationalstolzes werten möchte.

Der Mangel an Wohnraum und Baumaterialien ließ die Bürgerhäuser des Jugendstils überleben - anders als in Brüssel oder Paris, wo noch bis in die 1970er und 80er Jahre Hauptwerke abgerissen wurden. Viele Wohnungen wurden nach der Wende an die Mieter verkauft, andere Häuser an Erbengemeinschaften rückübertragen - was das Problem der Renovierung der Bausubstanz, der Fassaden und Treppenhäuser oft auch noch nicht lösen konnte. Inzwischen scheint jedoch strahlen die Fassaden in der Albert- und der Elisabethstraße wieder, furios, verrückt und furchterregend.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort