Mythos Autobahnkreuz Durchs Kamener Kreuz müssen sie alle durch

Kamen · Es ist das älteste Autobahnkreuz im Westen Deutschlands und ein Mythos: Täglich durchqueren 160.000 Autos das Kamener Kreuz. Im Verkehrsfunk ist es regelmäßig präsent. Wenn am Wochenende in sechs Bundesländern die Sommerferien enden, sind Autofahrer dort wieder herausgefordert. Wer es überwunden hat, darf sich glücklich schätzen.

Autobahnkreuz Kamen: Das ältestes Autobahnkreuz im Westen Deutschlands
Foto: Kamener Kreuz/Martin Ferl

Es ist nicht so, als gäbe es nicht die Schrecken von Westhofen, Sonnborn, Jackerath und Kaiserberg. Natürlich wissen wir um die Belästigungen, die uns Walldorf, Biebelried, Rosenheim und Heumar bescheren, von Feucht und Lotte ganz zu schweigen. Bei Meckenheim und Breitscheid, notorischen Problemzonen, zucken wir nur noch mit den Schultern.

Sie alle sind nichts gegen diese Mutter aller Kreuze, gegen die zu Beton gewordene Schraubzwinge des Autobahnverkehrs, den Sperrriegel des Systems, an dem fast jeder, der von West nach Ost, von Nord nach Süd reist, unausweichlich zum Stehen kommt. Es sei denn, er darf ausnahmsweise durchfahren, ohne anzuhalten.

Das Autobahnkreuz Kamen ist eine Erfindung, die von Franz Kafka stammen könnte. Es ist unberechenbar, surreal, unergründlich. Dabei haben wir Erfahrung mit ihm: Es ist das älteste Autobahnkreuz im Westen Deutschlands. Bloß Schkeuditz (in der Pampa zwischen Leipzig und Halle) ist älter.

Nicht nur in diesen Tagen, da in Niedersachsen, in Sachsen, in Hessen, in Bremen, in Sachsen-Anhalt und in Thüringen die Sommerferien ihrem Ende entgegengehen, spüren Autofahrer die herrische Macht dieses Autobahnkreuzes. Man begeht keine unzulässige Legendenbildung, wenn man Kamen einen Mythos nennt. Sinnbildhaft steht es für den Stau, das Warten, die Sperrung. Es besitzt einen Ehrenplatz im Verkehrsfunk. Kaum ein Tag vergeht, da das Kamener Kreuz nicht ungünstige Prognosen für den Verkehr erzeugt: Kamen ist der Ort, von dem wir nicht fortkamen.

Kamen ist verbunden mit Vor­orten der Hölle, sie heißen Berg­kamen, Bönen, Hamm-Uentrup. Jeder Autofahrer kennt sie, denn  zum Mythos zählt, dass der Verkehrsteilnehmer im Sinne der Abhärtung aufs Kamener Kreuz seit Jahren gut vorbereitet wird. Unmerklich hat sich ein Filialsystem kleinerer Bremsklötze gebildet, die im Dunstkreis Kamens den Verkehr auf der A 1 von Saarbrücken über Köln nach Heiligenhafen und auf der A 2 von Oberhausen über Hannover nach Berlin zum Stocken bringen.

Kamens schlechtes Karma strahlt nämlich aus in die Peripherie. Kein Tag, keine Stunde, kein Verkehrshinweis vergeht beispielsweise ohne die Warnung, dass zwischen den Abfahrten Hagen-Nord und Schwerte, die den Weg auf der A 1 zum Kamener Kreuz säumen, Blech dicht an Blech steht. Vorteile für das Kamener Kreuz besitzen diese Staus an seinen Vorgärten mitnichten. Täglich sind es im Schnitt 160.000 Autos, die durch dieses Nadelöhr hindurch müssen. Es ist eine Blechfresserin, eine Reifenhydra, eine Psychoguillotine.

Dabei besitzt die Fahrtrichtung psychologisch relevante Unterschiede. Wer aus dem Westen kommt, der nähert sich dem Kamener Kreuz fast immer mit vorgeschalteten Hindernissen; irgendwo auf der A 2, der A 40 oder der A 42 steht man ebenfalls oft herum. Hinter Kamen fühlt man sich sogleich reizarm und unbesorgt; die Landschaft lenkt nicht ab – östlich von Kamen ist Nordrhein-Westfalen so eintönig wie nirgendwo sonst. Das hält sich eine Zeit so, doch man sollte die Rechnung nicht ohne Porta Westfalica und nicht ohne das angeblich unschuldige Niedersachsen machen. Bad Eilsen und Lauenau – diese beiden Orte an der A 2 gelten unter Vielfahrern als verruchte Orte ungewollter Entschleunigung. Doch an Kamen reichen sie nicht heran.

Wer dagegen von Osten oder Norden kommt, der mündet hinter Kamen ins Delta der unübersehbaren NRW-Autobahnen. Es gibt ja zahllose Varianten, vom Kamener Kreuz etwa nach Mönchengladbach zu kommen. An Kamen selbst kommt keiner vorbei. Wer es versucht, wird bald sehen, was er davon hat. Wer etwa von der Lüneburger Heide an den Niederrhein zurückkehrt und meint, statt der A 2 sei ein Umweg über die A 1 trickreich, also über Walsrode und Bremen, der wird an der Ahlhorner Heide oder bei Bramsche grausam bestraft: Stau.

Warum das so ist? Nun, womöglich sind die deutschen Autobahnkreuze und -abfahrten gar keine seelenlosen Bauwerke, sondern lebende, atmende, miteinander in Echtzeit kommunizierende Gebilde; ihre Launen sind jedenfalls berüchtigt. An manchen Tagen sind sie selbst um 17.30 Uhr, mitten im Berufsverkehr, gönnerhaft, dann wieder dehnen sie die Fahrt eines Sonntagsfahrers von Herne nach Bielefeld ins Unermessliche.

Das war nicht immer so. Als das Kamener Kreuz 1937 gebaut wurde, war es über lange Jahre eher Ausflugsort für Radfahrer. So viele Autos gab es damals ja noch nicht. Die Pläne der Nazis mit dem Kamener Kreuz sind selbst vor dem Horizont sehr präziser lokaler und nationaler Geschichtsschreibung weiterhin unklar. Sollte das Kamener Kreuz ein wichtiges Glied im geplanten Truppentransport gen Osten sein? Nun, auf der Schiene wurde zu Kriegszeiten deutlich mehr abgewickelt. Andererseits scheint in unserer Vorstellung das Kamener Kreuz, was die militärischen Aspekte anlangt, ein zuverlässiges Bollwerk gegen den angeblichen Feind aus dem Osten zu sein: Jede russische Invasion käme – so geht ein sich hartnäckig haltendes Gerücht – am Kamener Kreuz automatisch zum Erliegen. In der Realität ist es eher ein Umschlagplatz und Verteiler für alle möglichen, Deutschlands Autobahnen füllenden Droschken aus Polen.

1937 wurde der erste Baustein gelegt, doch in alle Richtungen bezugsfertig und offiziell seiner Bestimmung übergeben wurde Kamen als Autobahnkreuz erst im Oktober 1956. Von Anfang an hatte es die klassische Form des Kleeblatts, das seitdem als Glücksbringer jedoch nur bedingt taugte. Seit den 70er Jahren, als der Besitz eines Autos fast wichtiger wurde als der Kauf einer vernünftigen Matratze und als sich der Verkehr inflationär erhöhte, meldeten Verkehrsplaner Ideen an, das Kleeblatt strategisch zu rupfen. Denn Staus entstehen – wir alle erleben es täglich – ja unter anderem durch die Unfähigkeit des Homo sapiens, mit hohem Verkehrsaufkommen professionell umzugehen und die simple Methode des Einfädelns zu praktizieren. Mit ein wenig Gelassenheit, mit ordentlichem Abstand zum Vordermann und einem liberalen Verhältnis zum Prinzip der Vorfahrt ließe sich sogar das Kamener Kreuz entzaubern. Aber diese Möglichkeit tritt niemals ein. Alle geben Gas und wollen früher ankommen, deshalb produzieren sie Staus und ärgern sich schwarz, weil sie stehen statt fahren.

So wurde von 2006 an in einer kolossalen Bauaktion das System einer halbdirekten zweispurigen Rampe installiert, mit dem Ergebnis, dass man, von Hannover kommend, die A 1 zunächst in weitem Bogen nördlich des Kreuzes unterquert, dann die westliche A 2 überbrückt und dann automatisch auf die A 1 Richtung Köln auffährt. Weiterhin wurde die Tangentialfahrbahn von Köln nach Hannover auf zwei Spuren ausgebaut. Besser wurde es dadurch nur ein bisschen.

Wer früher im Kamener Kreuz ein Problem hatte, dem wurde allerdings segensreich geholfen, denn mitten im Kleeblatt war die Autobahnpolizei stationiert. Im Zuge des Umbaus musste sie leider weichen. Stattdessen wurde wenig später wie ein Engel in Sichtweite ein ausrangierter ADAC-Hubschrauber als Skulptur auf Stelzen nahe der Autobahn abgestellt. Wer ihn sieht, der weiß: Er hat das Schlimmste geschafft. Es sei denn, er darf ihn sich eine halbe Stunde lang oder länger in aller Ruhe anschauen. Zum Stoiker macht Kamen keinen, es ist der Ort, an dem der Autofahrer wieder zum archaischen, aggressiven Wesen wird. An dem er sich aufregt, sich ereifert, lautstark äußert, wild gestikuliert und beginnt, den Vordermann im Stau nicht als Leidensgenossen, sondern als Hindernis zu betrachten.

Der seit 15 Jahren amtierende Bürgermeister Kamens heißt übrigens Hermann Hupe.

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