Neues Buch von Juli Zeh Unter, über, zwischen

Der vermeintliche Niedergang der Debattenkultur in Deutschland ist Thema im Neuen Roman von Juli Zeh. Die Schriftstellerin und ihr Co-Autor teilen ordentlich aus.

 Juli Zeh, deutsche Juristin und Schriftstellerin.

Juli Zeh, deutsche Juristin und Schriftstellerin.

Foto: picture alliance / Erwin Elsner/Erwin Elsner

Gegensätze erzeugen Spannung. Gut kontra böse funktioniert garantiert, schwach versus stark ebenfalls, Außenseiter gegen Establishment sowieso. Ohne diese Unterschiede gäbe es keine Debatten und gute Geschichten schon gar nicht. Das Leben und die Kunst wären fad, erst recht, wenn die Vielfalt der Blickwinkel fehlen würde, aus denen heraus sich eine Sache betrachten lässt. Seien wir ehrlich: Es kann wahnsinnig erfrischend sein, wenn jemand mal ordentlich gegen den Strich bürstet. Selbst wenn die These einer genauen Betrachtung am Ende nicht standhält.

Juli Zeh ist ein solcher jemand, die diesem Prinzip kompromisslos folgt. Eine Autorin, die mit starken Kontrasten ein scharfes Bild zu erzeugen sucht, eine Erzählerin, die auf den Wechsel der Perspektive setzt und vor Polarisierung nicht zurückschreckt. Die gebürtige Bonnerin, Schriftstellerin mit Diplom des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, Volljuristin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gehört heute nicht nur zu den produktivsten, sondern auch provokantesten Köpfen der deutschen Literaturszene. Vielleicht weil die 48-Jährige schon als Kind das Gefühl hatte, „dass irgendetwas mit dieser Welt nicht so richtig stimmt“.

Im Hinblick darauf bietet ihr die Gegenwart Auswahl in Hülle und Fülle: Klimawandel, Energiewende, Pandemie, Migration, Internet, Individualismus, Entsolidarisierung – Juli Zeh hat in ihre Romane alles hineingepackt, was die Gesellschaft bewegt und spaltet, zu guter Letzt auch noch den Krieg in Europa. Nach „Unterleuten“ (2016) und „Über Menschen“ (2021) dürfte auch „Zwischen Welten“, ihr jüngstes Werk, das sie mit dem Journalisten und Werbefachmann Simon Urban geschrieben hat, ein Bestseller werden.

Unter, über, zwischen – all die Präpositionen in den Titeln sind mit Bedacht gewählt, um die Nähe zu den Lebenswelten der Protagonisten zu unterstreichen. Wirkliche Lebenswelten bitteschön, denn wieder einmal wohnt die weibliche Hauptfigur – wie die Autorin seit 15 Jahren selbst – in der brandenburgischen Provinz. Theresa, 43, verheiratet, zwei Kinder, kämpft um die Existenz ihres Bio-Milchbauernhofs. Das Gefühl, von den Regierenden vergessen worden zu sein, nagt an ihr wie an vielen anderen in einer Region, in der knapp 30 Prozent rechtspopulistische Parteien wählen. „Hier“, sagt sie, „kann man mit niemandem über Literatur oder Weltpolitik reden. Aber dafür stehen die Leute mit beiden Beinen auf dem Boden.“

Aus einer ganz anderen Welt kommt Stefan (46), der männliche Gegenspieler. Er ist Kulturchef bei der Hamburger Wochenzeitung „Der Bote“ und sieht sich als Aufklärer in Zeiten von Verschwörungstheorien, Rassismus, Sexismus und dem neu aufgebrochenen Konflikt mit Russland. „Wer bei uns sitzt, ist am Puls der Zeit, er oder sie weiß, was die Leute beschäftigt.“ Meint er.

Theresa findet das nicht. Die beiden, die einst zusammen studierten, begegnen einander nach langer Zeit wieder. Gegenseitige Zuneigung ist noch vorhanden, doch der E-Mail-Wechsel und Messenger-Chat, der sich zwischen ihnen entspinnt, offenbart bald  bekannte Differenzen: Sie lebt auf dem Land, er in der Stadt, er hält Viehzucht für klimaschädlich, sie hält ihn deswegen für weltfremd, er gendert, sie nicht.  „Ihr Journalisten“, schreibt sie ihm, „seid in der Besserungsanstalt Bundesrepublik die obersten Erzieher.“ Klima-Aktivisten ist „Der Bote“ wiederum nicht engagiert genug.

Man muss sich nicht bis zur 448. Seite des Briefromans durchkämpfen, um zu begreifen: Theresa und Stefan können nicht zusammenkommen – hier das vermeintlich wahre Leben, dort der Elfenbeinturm. Das führt zum eigentlichen Thema des Buchs: „Wir sind besorgt über den Zustand der Debattenkultur in Deutschland, wo man sich fragen muss, ob man überhaupt noch von einer Debattenkultur sprechen kann“, formuliert es Simon Urban. „Oder ob es nicht längst eine Unkultur ist.“

Schon in „Über Menschen“ hatte Juli Zeh versucht, verhärtete Fronten aufzubrechen. Der Nachbar der aus Berlin in ein brandenburgisches Nest gezogenen Romanheldin ist ein Neonazi, aber eigentlich nicht wirklich böse. Auch die AfD-Wähler, die im Laufe der Story auftauchen, erscheinen keineswegs als Unmenschen, nur weil sie eine in Teilen undemokratische und verfassungsfeindliche Partei unterstützen. Reichlich überspannt wirkt einzig der Ex-Freund, übrigens wie Stefan aus „Zwischen Welten“ ein Zeitungsredakteur, der die drastischen Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung rückhaltlos unterstützt.

Klischees sind ein probates Mittel, um Konflikte zu illustrieren, mit ihnen lässt sich auch prima provozieren. Allerdings ist es ist ratsam aufzupassen, dass von pauschaler Kritik am Ende nicht bloß schale Kritik übrig bleibt. Wenn Theresa verächtlich von „Ihr Journalisten“ spricht, dann haut sie in dieselbe Kerbe wie Richard David Precht und Harald Welzer, die kürzlich ihr umstrittenes Buch „Die Vierte Gewalt“ veröffentlicht haben, in dem sie den deutschen Leitmedien vorwerfen, ein uniformes, einseitiges und gefährliches Bild unter anderem vom Ukraine-Krieg zu zeichnen. Belege bleiben die Autoren freilich schuldig, es brauchte ein Team von Kommunikationswissenschaftlern in Mainz und München, die 4300 aktuelle Presse-Beiträge auswerteten, um zu dem Schluss zu kommen: Die Beschuldigungen sind überwiegend haltlos.

Es bleibt nicht die einzige Kritik, die sich rund um „Zwischen Welten“ und dessen Autoren-Duo entzündet. Leider sei heute wirklich alles politisch aufgeladen, bedauert Simon Urban in der Neuen Zürcher Zeitung, und Juli Zeh ergänzt: „Inzwischen liegt im Westen Postdemokratie in der Luft.“ Schon in der Flüchtlingskrise 2015 sei jeder, der sich nicht mit der Willkommenskultur identifiziert habe, als rechts dargestellt worden. Die Corona-Maßnahmen hätten für weitere Irritationen gesorgt.

Die Ausgangssperren bezeichnet Zeh als „totalitäre Strafsituation, ich habe das fast als apokalyptisch empfunden“. Und erst die Reaktionen auf den offenen Brief an Bundeskanzler Scholz, zurückhaltend mit Waffenlieferungen an die Ukraine zu bleiben und auf Verhandlungen mit Putin zu setzten – die Angriffe auf die Unterzeichner, zu denen auch Zeh gehörte, seien schlimmer gewesen als in jeder Corona-Auseinandersetzung.

Der Soziologe Oliver Nachtwey sieht in solchen Äußerungen freilich einen Beleg für eine ganz andere These: „In Deutschland entsteht ein neues politisches Lager, das quer zur traditionellen Rechten und zum Konservatismus steht: anti-woke, corona-skeptisch, Angst vor kultureller Überfremdung und für ,Diplomatie‘ im Ukraine-Krieg.“

Der Grünen-Politiker und Publizist  Ralf Fücks kritisiert gar ein „Panikvokabular“, das die Brücke zu verschwörungstheoretischen Protestbewegungen baue, die von Meinungsdiktatur und Mainstream-Medien redeten. Durch Corona und den Krieg in der Ukraine, so Fücks im Deutschlandfunk, sei eine neue Querfront entstanden, die nicht nur ganz rechte und ganz linke Kräfte verbinde, sondern auch eine „ultralibertäre Strömung“, die sich gegen jede Art staatlicher Regulierung wende und sich damit entsolidarisiere.

Was für Gegensätze! Wie verschieden die Blickwinkel! Wie munter die Debatte! Das alles dürfte Juli Zeh und Simon Urban am wenigsten überraschen. Spannend ist die Diskussion allemal. Legitim aber auch. Und fruchtbar könnte sich am Ende ebenfalls sein.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort