Berlin Zweifeln am Sinn des Lebens

Berlin · Zum 80. Geburtstag des großen Novellisten Hartmut Lange

Unter den Schriftstellern hierzulande ist er einer der leisen (wie zu viele andere auch) und zugleich einer der bedeutendsten (was naturgemäß seltener der Fall ist). Sein heutiger 80. Geburtstag muss darum mehr als nur ein pflichtschuldiger Gruß an den Jubilar sein, sondern vielmehr ein Bekenntnis und die vehemente Empfehlung, Hartmut Lange zu lesen - den bedeutendsten Novellisten deutscher Sprache und unserer Zeit.

Dafür gibt es Belege, vor allem seine Bücher. Und es ist keine Verlegenheitslösung mangels frischer Ware, dass Diogenes zum Geburtstag jetzt Langes ersten Novellenband von 1984 - "Die Waldsteinsonate" - hervorgekramt und neuerlich publiziert hat. Der Band ist ein Geschenk an die Leser, die zu den Ursprüngen Langes eingeladen werden. Und das ist eine Entdeckung: Nicht nur die kristalline Klarheit seiner Sprache ist schon da, sondern auch seine kühle Abkehr von unserer Welt des Profanen. Der Autor scheint sich kaum verändert zu haben; ein Klassiker also schon vom ersten Satz an.

Als habe das der gebürtige Berliner und studierte Dramaturg schon geahnt, widmet er eine Novelle ziemlich keck dem größten Novellisten aller deutschen Zeiten: Heinrich von Kleist. Dessen gemeinsamer Selbstmord mit Henriette Vogel am Kleinen Wannsee 1811 wird für Lange zu einer Präambel seines eigenen Denkens und Schreibens. Eine Novelle, die von dem guten Augenblick des Sterbens erzählt, gepaart mit der bodenlosen Erkenntnis: "Das Leben ist viel wert, wenn man's verachtet." Aber in diese nihilistisch durchtränkte Welt fallen auch andere Worte. Als Kleist Madame Vogel fragt, wohin er denn die Pistole gegen sie richten solle, wird diese kurz und knapp und ebenso ergreifend antworten: "Ins Herz."

Hartmut Lange ist der große Zweifler am Sinn des Lebens. Es wird keine Erlösung geben von einer Welt ohne Geheimnisse; auch die Religion wird für ihn immer nur ein Versprechen bleiben. Dieser Schrecken wird in seinen Novellen jedoch gebändigt durch die Größe seines Dichtens und die Schönheit seiner Sprache. Auch darum ist für ihn die Kunst nichts anderes als die legitime Nachfolgerin religiösen Hoffens.

Nietzsche darf natürlich in Langes ersten Novellen nicht fehlen; auch der Philosoph Alfred Seidel nicht, der sich nicht einmal 30-jährig das Leben nahm. Verstörend ist die Geschichte von Franz Liszt, der in Hitlers Führerbunker kurz vor der Kapitulation eingeladen wird, und geradezu gespenstisch die nachträumerische Liebesepisode einer Jüdin mit ihrem SS-Mörder. Unglaublich, furchtbar, faszinierend. Das sind die existenziellen Abgründe, an deren Ränder uns der Autor - wie einst schon Georg Büchner - führt. Ohne diese Totenwelt Langes wäre unser Leben um Vieles ärmer.

Info Hartmut Lange: "Die Waldsteinsonate". Fünf Novellen. Diogenes, 144 Seiten, 20 Euro

(los)
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