Roberto Ciulli Der Theater-Vordenker

Mülheim/ Ruhr · Im April wird der Mülheimer Theatergründer Roberto Ciulli 85 Jahre alt – und ist weiter produktiv: Gerade spielt er in Ibsens „Gespenster“.

 Petra von der Beek als Mutter Helene und Roberto Ciulli als ihr Sohn Osvald in Ibsens „Gespenster“, einer aktuellen Inszenierung von Simone Thoma am Theater an der Ruhr.

Petra von der Beek als Mutter Helene und Roberto Ciulli als ihr Sohn Osvald in Ibsens „Gespenster“, einer aktuellen Inszenierung von Simone Thoma am Theater an der Ruhr.

Foto: Franziska Götzen

Osvald ist zurück. Als Kind gab die Mutter ihn in die Fremde. 20 Jahre ist das her. Die Mutter musste ihren Sohn vor dem Vater schützen, doch nun ist Osvald wieder da, ein Mann inzwischen, ein Maler. In seinem Familiendrama „Gespenster“ beschwört Henrik Ibsen die dunklen Geister der Vergangenheit, noch ehe der verlorene Sohn die Bühne betritt. Doch dann kommt Osvald – und ist in der aktuellen Inszenierung von Simone Thoma am Theater an der Ruhr kein junger Mann, kein 30-jähriger Abenteurer, sondern ein alter Herr mit langen weißen Haaren: Roberto Ciulli. Wie der dann von früher erzählt, die scheinbar harmlosen Erinnerungen eines missbrauchten Jungen heraufbeschwört und sie sogleich entlarvt, indem er Sprache ausstellt, mit seinem italienischen Akzent die Silben abtastet, jedes Wort nach seinem verborgenen Sinn befragt, ist ein Erlebnis.

Roberto Ciulli ist ein außergewöhnlicher Theatermacher – als Regisseur, Darsteller, Theaterleiter. Gerühmt wird er für die Kraft seiner Bilder und die Poesie seiner Inszenierungen. Er selbst sagt, der Kern des Theaters sei das Denken. Und Bilder im Theater seien dazu da, eine Explosion von Bildern im Kopf des Zuschauers auszulösen. Aufklärung mit sinnlichen Mitteln, könnte man sagen.

Um nach eigenen Regeln Theater zu machen, gründete der in Mailand geborene Ciulli zusammen mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und dem vor kurzem gestorbenen Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben 1980 das Theater an der Ruhr. Als Anti-Stadttheater, das doch in einer Stadt verankert war. Eine Pionierbühne – mit inzwischen 40 Jahren Tradition. Ciulli wird am 1. April 85 Jahre alt, doch man merkt es ihm nicht an, wenn er sich bei Ibsen auf einen Tisch setzt, die Beine baumeln lässt, ironisch bemerkt, wie schön es sei bei der Mutter. „Ich habe immer noch jeden Tag Lust, ins Theater zu fahren und zu spielen“, sagt er, „allerdings bin ich nicht so dumm zu glauben, dass das noch 20 Jahre so weiter geht.“

Ciulli ist ein leidenschaftlicher Theatermacher, ein Charakterkopf, kein Bühnenpatriarch. Das Theater an der Ruhr wurde von einem Kollektiv gegründet, es hat sich schon früh für Einflüsse aus anderen Kulturkreisen geöffnet, und so gibt es dort auch heute den Spielraum für Künstler mit eigener Theatersprache. Dafür sind die „Gespenster“ ein Beispiel. Regisseurin Simone Thoma ist seit langem auch Darstellerin in Mülheim, hat inzwischen mehrfach inszeniert. Ganz in der Tradition des Hauses lebt ihre Ibsen-Inszenierung von starken Bildern, die aus Motiven des Textes gewonnen sind: Geistermotive wie ein selbstspielendes Klavier etwa oder schwankende Kronleuchter. Dazu schafft Thoma auf ihre Art Räume für die Darsteller, etwa durch ein ruhiges Tempo, das Konzentration für das Gesprochene fordert, oder durch Szenen, die ohne Text auskommen – nur den Darstellern gehören.

Auch die Ruhrfestspiele unter dem neuen Intendanten Olaf Kröck fragen nun nach dem Besonderen an Mülheim und ehren das Theater mit einer Werkschau. Drei Inszenierungen aus Ciullis Repertoire sind in Recklinghausen zu sehen. „Roberto Ciulli war der erste Theatermacher in Nordrhein-Westfalen, der die Idee eines interkulturellen Dialogs konsequent betrieben hat. Er hat sich und sein Theater an der Ruhr damit zu einem bedeutenden Ort gemacht, an dem Welt-Theater praktiziert wurde und wird“, sagt Olaf Kröck und erzählt, dass er in den 1980er Jahren Gastspiele von Ciulli in der Viersener Festhalle sah und dass diese Inszenierungen dazu beigetragen hätten, dass er sich intensiver mit Theater zu befassen begann. „Robertos Theater ist energetisch und bunt, auch dank seines Dramaturgen Helmut Schäfer nie flach oder anbiedernd“, so Kröck.

Tatsächlich hat sich das Theater an der Ruhr schon früh in Länder gewagt, zu denen der Zugang nicht leicht fiel. In den Iran etwa. Die Bühne lädt auch regelmäßig Theaterleute und Musiker aus anderen Kulturkreisen ein, ihre Kunst in Mülheim zu zeigen. Austausch auf Augenhöhe wurde bei Ciulli schon gepflegt, lange bevor über postmigrantisches Theater diskutiert wurde. „Wir haben damit angefangen, weil wir das Gefühl kannten, fremd zu sein im eigenen Land“, sagt Ciulli. Die Aufbrüche an deutschen Bühnen, etwa auch das Tanztheater von Pina Bausch, seien anfangs ja auf Widerstände gestoßen. Das sei heute fast vergessen. Und dann erzählt er von einem Gastspiel in den 1980er Jahren, bei dem von 900 Zuschauern, 600 den Saal verließen. 300 aber waren begeistert. „Wir haben damals Theater gemacht, wie es sein soll“, sagt Ciulli, „aber wir waren zu früh.“

Seine Kindheit hat Ciulli viel unter Erwachsenen verbracht. Langweilig sei das gewesen, erzähl er, doch habe diese Langweile ihn zum Beobachter gemacht, aus Widerstand sei er zum Clown geworden. Dieser Clown drängt weiter auf die Bühne – ihm zu begegnen, ist ein Glück.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort