Ziemlich dicke Freunde

Die Kulturgeschichte der besten Freunde reicht vom Alten Testament über Tom Sawyer und Huck Finn bis zur Kino-Komödie "Ziemlich beste Freunde". Was macht solche Herzensverbindungen magisch? Warum hören wir so gern Geschichten von Blutsbrüderschaften? Ein neues Sachbuch liefert Antworten.

Ziemlich dicke Freunde
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Einer der schönsten Filme über Freunde heißt "Nordsee ist Mordsee" und spielt in den 70er Jahren im Hamburger Ghetto, Wilhelmsburg, sozialer Wohnungsbau. Uwe und Dschingis leben dort, der eine hat Ärger mit dem Vater, der andere mit der Mutter, und deshalb wollen sie abhauen. Die beiden segeln los, Uwe würde gern wissen wohin, aber Dschingis zuckt mit den Schultern, keine Ahnung, er könne dem Wind nicht sagen, wie er wehen soll. Das versteht Uwe, er nickt, vielleicht ahnt er, dass vor ihm jene autonome Republik liegt, in der Zwänge außer Kraft gesetzt sind, in der man frei leben kann, in den Tag hinein. Jedenfalls werden die Jungs immer kleiner, das Meer wird immer größer, und dann fängt Udo Lindenberg zu singen an: "Jetzt wollen wir mal sehen / Wie weit die Reise geht / Und wohin der Wind mich weht / Es muss doch irgendwo 'ne Gegend geben / Für so'n richtig verschärftes Leben / Und da will ich jetzt hin."

Männerfreundschaft. Das ist ein Leitmotiv der Kunst, eine Lebensmelodie. Es gibt die kindliche Variante: Tom Sawyer und Huck Finn sind ihr Urbild. Da ist außerdem die jugendliche Freundschaft von Uwe und Dschingis, da ist die Verbundenheit unter Erwachsenen — von Goethe und Schiller über Winnetou und Old Shatterhand bis Jonathan Franzen und David Foster Wallace. Jede Generation erzählt diese Geschichten aufs Neue, im Alten Testament findet man sie bei Jonathan und David, und heute sind sie wieder beliebt, wie der Erfolg des Romans "Tschick" zeigt oder der des Films "Ziemlich beste Freunde".

Der Journalist Tobias Rüther hat nun die Kulturgeschichte der Blutsbrüderschaft aufgeschrieben, sein großartiges Buch heißt "Männerfreundschaft", und darin geht es eben nicht um vorgeblich kumpelhafte Verhältnisse wie bei Kohl und Strauß, auch nicht um selbstgewisse Testosterongemeinschaften. Sondern um Herzensverbindungen und Seelenverwandtschaften, im Grunde also um etwas sehr Poetisches, und deshalb heißt der Band und im Untertitel "Ein Abenteuer". Er ist randvoll mit Erinnerungen an Freunde wie die aus dem Film "Stand By Me", zu dem Stephen King die Vorlage lieferte. King erzählt von einer Kleinstadt im Jahr 1960. Es ist Sommer, der junge River Phoenix spielt in der Verfilmung einen der Jungs, und sie wollen die Leiche suchen, von der die Erwachsenen reden. Sie finden sie nicht in dieser Nacht, aber sie finden etwas anderes, das gute Gefühl, etwas Erinnerungswürdiges erlebt zu haben und jemanden zu kennen, auf den man sich verlassen kann, mit dem man sich unschlagbar wähnt und 2000 Meter groß.

Die Jungs aus "Stand By Me" sind zwölf Jahre alt, das ist ein gutes Alter, um beste Freunde zu treffen, und der Sommer ist die beste Jahreszeit. Oft spielen Geschichten über Freunde am Wasser, so ist es bei Tom und Huck, die am Mississippi jung sein dürfen. Auch die Straße kommt als Schauplatz häufig vor — so ist es bei "Tschick" von Wolfgang Herrndorf, dem Roman, der bereits zwei Jahre nach Veröffentlichung im Jahr 2010 Schullektüre wurde. Da sitzt Maik im elterlichen Bungalow und erwartet langweilige große Ferien, aber dann hört er ein Rumpeln in der Einfahrt, und es ist sein Klassenkamerad Tschick in einem geklauten Lada. Maik steigt ein, und beide brechen auf in den Sommer ihres Lebens. "Freundschaft ist Sabotage am üblichen Lauf der Dinge", sagt der Philosoph Rüdiger Safranski in Tobias Rüthers Buch, es ist wie in "No Surrender" von Bruce Springsteen, den man überhaupt als den Hymnen-Lieferanten der Freundschaft bezeichnen kann: "We swore blood brothers against the wind".

Rüther befragte für sein Buch Spezialisten in Sachen Freundschaft, Psychologen etwa, aber auch Schriftsteller wie Jonathan Franzen, dessen jüngster Roman "Freiheit" von den Freunden Walter und Richard handelt. Freundschaft, sagen diese Fachleute — und sie bestätigen damit natürlich nur, was man schon länger fühlt und ahnt —, ist das Gegengift zum Weltmist. Man entscheidet sich aus freien Stücken dafür, Freundschaft ist individueller als Familie, emanzipatorischer, und letztlich kann man Freundschaft als Ausdruck unserer Freiheit werten. Denn Zeit und Gefühl in eine Verbindung zu stecken, die man selbst und nicht die Natur geknüpft hat, bedeutet, frei zu sein.

Wie man einander findet, ist abhängig von den jeweiligen Persönlichkeiten, klar, aber eine Konstante in der Welterzählung bester Freunde ist doch, dass dem einen etwas fehlt, das der andere hat. So ergänzen sich zwei, und sie gewinnen dies: Triumphalismus, Unschlagbarkeit, die Arroganz von Jungen, die dem Wind dann doch sagen, wohin er sie wehen soll, nämlich dem Unbekannten entgegen, dem Abenteuer, dem großen Vielleicht.

Freunde erschaffen sich eine zweite Welt, wenn sie zusammenkommen, sie sind die Gründer ihres eigenen Reichs, dort dürfen sie souverän handeln, frei von Optimierungsbestrebungen, den Erfolgsrezepten der Ratgeber und der Realität der Hirnforscher. Goethe, der ein großer Blutsbrüder-Romantiker war, hatte gleich mehrere beste Freunde. Der seiner späten Tage war Carl Friedrich Zelter, und an ihn schrieb er etwas sehr Schönes: "Ich verstehe mich selbst erst in Dir."

Im Tobias Rüthers Buch kommt auch Elke Heidenreich zu Wort, sie bedauert, dass die Kulturgeschichte das Phänomen des besten Freundes nur bei Männern kennt: Es gibt keine Mississippi-Geschichten für Mädchen. Effi Briest oder Anna Karenina durften keine besten Freundinnen haben, vielleicht weil sie Geschöpfe männlicher Autoren sind, die ihren Figuren so etwas nicht zustanden. Sicher ist, dass die Geschichte der Emma Bovary mit bester Freundin anders geendet hätte. Beste Freunde können nämlich Leben retten. Ishmael etwa, der Ich-Erzähler in "Moby Dick", überlebt den berühmten Schiffbruch, weil er sich an den Holzsarg klammert, den sein Freund Queequeg schnitzte.

Manche haben das Glück, ein Leben lang von einem besten Freund begleitet zu werden. Aber auch Freunde, mit denen man nur episodisch verbunden war, wird man nicht los — im positiven Sinn. Die Erinnerung an das Erlebte wirkt wie eine Zeitmaschine, das Früher wird lebendig. Das ist die Romantik aufgeschlagener Knie, die Sehnsucht nach der Müdigkeit am Abend eines im Freien verbrachten Tages, nach der Aufregung vor einer Nacht im Zelt. In "Wiedersehen mit Brideshead" von Evelyn Waugh, einem anderen großen Freundschaftsbuch, heißt es: "Ich möchte überall, wo ich glücklich war, etwas Kostbares vergraben, dann könnte ich, wenn ich alt und hässlich und elend bin, zurückkommen, es ausgraben und mich in die Vergangenheit zurückträumen." Wer Freunde hat, wird nicht vergessen, wie es ist, Träume zu haben. Er besitzt buchstäblich einen Schatz.

Bruce Springsteen singt in dem Lied "No Surrender", das er an seinen besten Freund richtet, vom "weit offenen Land in unseren Herzen", das er nicht aufgeben, aus dem er sich nicht zurückziehen möchte. Man sieht daran, wie existenziell Freundschaft wirkt, wie schön es ist, sie zu erleben und wie tragisch, sie zu verlieren. Jede Geschichte über Freundschaft liefert eine Antwort auf die Frage, wer wir selbst sind. Tom und Huck, Uwe und Dschingis, Maik und Tschick. Sie verraten uns, warum wir wurden, wer wir sind. Goethe kannte den wahren Wert solcher Männerfreundschaft. Er schrieb nach dem Tode Schillers: "Ich verliere einen Freund, und in demselben die Hälfte meines Daseins."

(RP)
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