Zentrum für politische Schönheit Kunst, nur krasser

Düsseldorf · Keine Künstlergruppe in Deutschland ist so umstritten wie das Zentrum für politische Schönheit. Und keiner wird so viel Beachtung geschenkt.

 Vor dem Bundestag im Sommer 2015: Symbolische Bestattung von Toten aus dem Mittelmeer durch das Zentrum für politische Schönheit.

Vor dem Bundestag im Sommer 2015: Symbolische Bestattung von Toten aus dem Mittelmeer durch das Zentrum für politische Schönheit.

Foto: dpa

Eines Tages wird der wichtigste Indikator für den Wert von Kunst womöglich nicht mehr ihr Auktionspreis sein, sondern wie viel Aufmerksamkeit sie im Internet erzeugt. Und wenn es so kommt, dann hat Philipp Ruch gute Chancen, dass sein Werk vorne mit dabei ist. Kaum einem wurde für seine Arbeit in den vergangenen Jahren so viel Beachtung zuteil wie ihm. Ruch ist Gründer, Sprecher, Kopf des Zentrums für politische Schönheit (ZPS), und wenn es eine neue Aktion der Künstler-Aktivisten-Gruppe gibt, schicken sie ihn vor.

Ruch, 37, promovierter Philosoph, ist das Gesicht der Gruppe, seit sie vor fast zehn Jahren zum ersten Mal in Erscheinung trat. Am 8. Mai 2009, 64 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ritt das ZPS mit Pferden vor den Deutschen Bundestag. Die Wartenden in der Besucherschlange schwor die Gruppe darauf ein, „öfter an Schönheit, Glanz und Größe“ zu denken „als an Partys, Autos und Fußball“. Dann riefen sie zehn Thesen aus, zum Beispiel: „Schönheit und Hässlichkeit sind die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben elementar abspielt.“ Das klingt nach Erbauungsliteratur aus dem Kassenbereich von Großbuchhandlungen. Aber genau das führt das ZPS seit zehn Jahren vor.

Es gibt Fotos vom „Thesen-Anschlag auf den Deutschen Bundestag“, sie zeigen Philipp Ruch: schwarzer Anzug, Schminke im Gesicht wie Kriegsbemalung. Seitdem hat er viele solcher Auftritte hingelegt, immer Anzug, immer Schminke. Es sei die Asche untergegangener Hochkulturen, sagte er einmal.

Anfang Dezember setzte sich Ruch wieder einmal ins Scheinwerferlicht. Anzug, Schminke. Das ZPS hatte eine Website geschaltet: soko-chemnitz.de. Auf der Seite war neben Neonazikadern und AfD-Politikern eine Handvoll mutmaßlicher Rechtsextremer abgebildet, die sich an den Übergriffen in Chemnitz Ende August beteiligt haben sollen. Auf die Unbekannten setzte das ZPS Kopfgelder aus und rief dazu auf, sie bei ihren Arbeitgebern zu denunzieren. Natürlich gab das einen Riesenaufschrei in Zeitungen und Online-Kommentarspalten. Nazis drohten, Philipp Ruch zu Hause zu besuchen. Die Polizei schloss das Aktionsbüro des ZPS in Chemnitz. Und ein Mann vom Deutschen Kulturrat kritisierte, die Gruppe treibe die Spaltung der Gesellschaft voran.

E-Mail an den Umstrittenen – Philipp Ruch wollte sich nur schriftlich äußern. Frage: Was er zu dem Vorwurf sagt, er spalte? Das sei reine Beschwichtigungspolitik, schreibt er. „Nach Chemnitz gibt es nichts mehr zu beschwichtigen: Der militante Rechtsextremismus ist gewaltig auf dem Vormarsch.“ Nach den Attacken auf Journalisten, Polizisten und ein jüdisches Restaurant sollte nicht die politische Kunst beschuldigt werden, die Gesellschaft zu spalten. „Der Rechtsextremismus hat gar nichts mit der Gesellschaft zu tun. Er ist nicht gesellschaftsfähig“, meint Ruch. „Wir machen ihn die ganze Zeit gesellschaftsfähig, und wir müssen jetzt damit aufhören. Er gehört ausgegrenzt und geächtet.“

Drei Tage wurde über „Soko Chemnitz“ gestritten, dann schaltete das ZPS sein Portal ab und gab an, nicht die Fahndungsfotos seien Herzstück der Aktion gewesen, sondern eine Suchfunktion auf der Internetseite. Wer unter den Angeprangerten sich selbst oder Bekannte vermutete, gab Namen ein. Die Suchanfragen wurden registriert. So sollen die Rechten ihr Netzwerk ausgeliefert haben, ohne es zu merken. Eine Falle. Das Tamtam drumherum: Lockmittel. Tarnung.

Man kann an „Soko Chemnitz“ studieren, wie das ZPS arbeitet, wie es die Gruppe schafft, jede neue Aktion plötzlich und mit Hochgeschwindigkeit in die deutsche Wirklichkeit krachen zu lassen. Sie schalten eine Internetseite, informieren soziale Medien und Journalisten. Im Ton sind sie stets nah an der Selbstüberschätzung, Fakt und Fiktion sind dadurch umso schwerer auseinanderzuhalten. Für- und Widersprecher bringen sich in Stellung, schnell bilden sich Schaumkronen auf der Empörungswelle. Angenommen, es würde sich einmal niemand melden, die Aktion wäre ein Reinfall.

Immer bewegt sich das ZPS am Rande der Legalität, zumeist werden Ermittlungen bald eingestellt. Wegen „Soko Chemnitz“ wurden in den ersten Tagen neun Strafanzeigen bei der Polizei gestellt. Unserer Redaktion teilt die Staatsanwaltschaft Chemnitz mit, gegen Philipp Ruch laufe ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung.

Irritierend ist, dass sich Forderung (Menschlichkeit) und Methoden des ZPS diametral gegenüberstehen, nicht nur beim Online-Pranger zu „Soko Chemnitz“. Das stürzt selbst Sympathisanten in ein Dilemma. 2017 behauptete das ZPS, AfD-Mann Björn Höcke über Monate ausspioniert zu haben, bevor es eine Miniatur des Berliner Holocaust-Mahnmals nahe seinem Wohnhaus installierte. 2016 sperrten sie Tiger in eine Arena und drohten, sie Flüchtlinge fressen zu lassen. Meist werden die Diskussionen darüber auf nur einer Ebene geführt, obwohl das ZPS seine Arbeiten auch unterkellert und überbaut. Eigentlich müsste man deshalb abwarten und seine Meinung erst zum Ende einer Aktion formulieren. Aber das hält kaum jemand aus. Zu krass scheint das Gebotene.

Dabei sind die Aktionen nicht nur konzertiert, sondern auch inszeniert: Die „Soko Chemnitz“-Seite schmückte das Logo des Freistaats Sachsen; vor dem Tigerkäfig von „Flüchtlinge fressen“ traten Schauspieler als Gladiatoren auf; die Höcke-Überwachung hat es so nie gegeben, und die Beton-Stelen vor dessen Haus sind aus Holz. Sie stehen dort übrigens immer noch.

Zugleich zielt jede Aktion auf die realpolitischen Verhältnisse ab, und das nicht im geschützten Theaterraum, sondern in der Wirklichkeit von Dortmund-Dorstfeld und Bornhagen in Thüringen. Jeder wird teilhaben, ob er will oder nicht, es genügt schon, bei Twitter oder Facebook zu sein. Und wer dabei ist, muss sich verhalten. Selten fliegen so sehr die Fetzen wie bei Aktionen des ZPS. „Aktionen sind Waffen gegen die Hilflosigkeit“, schreibt Ruch. „Wir rüsten da auf.“

Eine Aktion ist erfolgreich, wenn sie das politische Klima ändert, meint er. „Oder wenn es ihr gelingt, in die Kapillaren des Denkens einzudringen und der Grundgedanke nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet. Nicht wenige denken, wenn sie heute das Wort ‚Mauerfall‘ hören, an die Außengrenze der Europäischen Union.“

Vor vier Jahren schraubte das ZPS in Berlin Mauerkreuze ab und gab vor, sie im Gedenken an die Toten im Mittelmeer an Europas Grenzen zu bringen. „Erster europäischer Mauerfall“ nannten sie die Aktion. „Geschmacklos und dumm“, befand das Berliner Oberbürgermeister-Büro. Auch im Bundestag wurde diskutiert. Die Kreuze tauchten frischpoliert wieder auf.

Vor drei Jahren dann setzte das ZPS eine im Mittelmeer ertrunkene Syrerin auf einem Berliner Friedhof bei, und vor dem Bundestag hoben Unterstützer ein Grabfeld aus. „Die Toten kommen“, hieß es vom ZPS. „Es ist gut für unsere Gesellschaft, sich über die eigenen Verbrechen bewusst zu werden“, meint Ruch.

Sich entscheiden, ob er Aktionskünstler oder politischer Aktivist ist, möchte er im Übrigen nicht, er findet beide Kategorien unpassend. „Wir haben doch keine Ertrunkenen aus dem Mittelmeer geborgen und als Aktionskunst in Deutschland beerdigt“, schreibt Ruch. „Das tut man als Mensch. Als Bürger dieser Welt. Als verkörperter Anstand, wenn Sie so wollen.“

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