Gastbeitrag Wladimir Kaminer Im Fortschritt ist Selbstbetrug vorprogrammiert

Berlin · Der aus Russland stammende Bestsellerautor zieht Bilanz: über Elektroautos und  Ampelschaltungen, über Städte und Stromausfall.

 Der in Moskau geborene  Bestsellerautor  Wladimir Kaminer.  Foto: David Breun, ramp #44

Der in Moskau geborene Bestsellerautor Wladimir Kaminer. Foto: David Breun, ramp #44

Foto: ramp/DAVID BREUN DAVID@DBREUN.DE

Die Evolution des Automobils dauerte nicht so lang wie die der Menschheit, aber sie geht schneller. Vor unseren Augen verwandeln sich die Fahrzeuge bis zur Unkenntlichkeit, und hinter jedem Auto steckt eine Geschichte. Die Industrie ist im Wandel, niemand weiß genau, wie das Auto der Zukunft aussehen wird. Wird es einen Verbrennungsmotor oder einen E-Motor haben? Wird es groß und langsam oder klein und schnell sein? Und wird es von künstlicher oder natürlicher Intelligenz gelenkt? Gleiches passiert mit den Großstädten. Angeblich wird in Zukunft der globale Wettbewerb nicht zwischen den Nationalstaaten oder transnationalen Konzernen stattfinden, die Städte werden untereinander konkurrieren. Die Stadt, die es am überzeugendsten schafft, eine stabile und moderne Infrastruktur aufzubauen, wird die Kreativen aus aller Welt anziehen.

Unsere Großstädte sind im Wandel, wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? Darüber wird viel gestritten. Berlin wurde einmal von seinem ehemaligen Bürgermeister als „arm, aber sexy“ bezeichnet. Das klang damals wie ein gutes Verkaufsargument, wie eine Einladung an die große Welt, die deutsche Hauptstadt mitzugestalten, und es hat eine Menge Leute in die Stadt gelockt. Die schlauen Investoren und die mittellosen Studenten kamen, große Baufirmen und kleine Start-ups. Der alte Bürgermeister ist inzwischen in Rente gegangen, die Stadt kommt trotzdem nicht zur Ruhe, es wird ständig auf-, ab- und umgebaut.

Die Ampelschaltungen in Berlin werden immer kürzer, die jungen Menschen schaffen es noch locker über die Straße, die Alten müssen auf ihre Fitness achten, wenn sie es auf die andere Seite schaffen wollen. Meine Mutter, die dieses Jahr 87 Jahre alt wird, hat es nicht leicht. Gerade in diesem Alter merkt man überdeutlich, dass die Erde niemals gerade, sondern rundlich ist und sich ständig dreht. Es geht bergauf, bergab, eine falsche Bewegung, und du bleibst auf der Strecke hängen.

An manchen Orten dreht sich die Erde anscheinend schneller als normal, zum Beispiel in Berlin. Deswegen muss man sich als Fußgänger beeilen, wenn man auf die andere Seite der Straße will. Eine Gehhilfe möchte meine Mutter nicht haben, sie äußert sich abschätzig über all die „komischen Omas“, die ihre kleinen Wagen vor sich herschieben, obwohl die meisten dieser Omas wahrscheinlich jünger sind als meine Mutter. Außerdem schafft man es mit so einer Gehhilfe erst recht nicht, die Straße bei Grün zu überqueren.

Eigentlich werden in Deutschland die Richtlinien für Lichtsignalanlagen danach festgelegt, wie viel Zeit die Fußgänger brauchen, um eine Straße zu überqueren. Die Richtlinien werden von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen herausgegeben und gelten nicht nur für Berlin, sondern bundesweit. Befindet sich ein Fußgänger noch auf der Fahrbahn, wenn die Ampel auf Rot umschaltet, muss er sich nach dieser Richtlinie mit einer Geschwindigkeit von 1,2 Metern pro Sekunde auf den gegenüberliegenden Bürgersteig retten. Je nach örtlicher Gegebenheit kann diese sogenannte „Raumgeschwindigkeit“ zwischen 1 und 1,5 Meter pro Sekunde variieren. Doch vom Gefühl her beschleunigt sich das Leben in den Großstädten, die Autos und die Fußgänger werden schneller. Je größer die Stadt, desto schneller schaltet die Ampel um. Die Mutter rennt.

Die beste Freundin meiner Mutter musste vor Kurzem ihren sehr alten Führerschein abgeben, sie hatte 50 Jahre lang ein japanisches Auto gefahren, ganz ohne Sorgen. Dann haben die Ärzte aber festgestellt, ihre Seitensicht hätte infolge des Alterungsprozesses gelitten. Die Straße vor sich konnte Mutters Freundin noch gut erkennen, was aber rechts und links geschah, entging ihrer Aufmerksamkeit. Die Freundin gab den Schein ab, meldete sich aber bei einer Fahrschule an, in der Hoffnung, ihre Seitensicht wieder erlangen zu können. Die hinterhältigen Fahrlehrer gaben ihr großzügig viele Fahrstunden und erzählten, sie brauche ein intelligenteres Auto, am besten ein E-Auto, das quasi von allein fährt. Seitdem spricht die Freundin nur noch von Elektroautos, sie träumte sogar schon mehrmals davon, wie sie ein solches Auto fährt. Im Traum hatte das Auto überhaupt keine Pedale und fragte sie mit freundlicher Stimme, wo sie hingefahren werden möchte.

Diese Elektroautos findet meine Mutter auch sehr cool. Sie sollen die sichersten und saubersten Fahrzeuge werden, uns vor den Folgen des Klimawandels retten. Obwohl man sich fragen muss, wo denn der Strom herkommt, der diese E-Autos antreibt. Angeblich wird bei der Produktion von Autobatterien für ein solches Fahrzeug so viel CO2 produziert, wie ein Verbrennungsmotor braucht, um einmal um die Welt zu fahren. Erst ab 50.000 Kilometern soll sich das E-Auto umweltschonend lohnen.

Der Fortschritt ist unausweichlich und wird sehr bald unsere Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern. Die Regierung will in die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz verstärkt investieren, angeblich ist mit der natürlichen Intelligenz auf Dauer kein Staat zu machen. Ich habe da meine Zweifel. Der Mensch versteht sich selbst noch lange nicht, wie soll er das Neue verstehen, das auf uns zukommt? Die Maxime des Orakels von Delphi, „Erkenne dich selbst“, wird durch eine neue ersetzt: „Entspann dich und lass dich von der K.I. leiten“. Unser Gedächtnis, das einst imstande war, sich lange Texte zu merken und darüber zu reflektieren, wird jetzt durch das

elektronische Gedächtnis, durch Festplatten und Clouds ersetzt. Bereits heute kennen viele junge Menschen keine Multiplikationstabelle mehr. Das ist kein Witz – wenn heute in einer großen Kaufhalle der Computer ausfällt, haben die Kassierer ein Riesenproblem, sie können nicht mehr selbstständig rechnen.

Im Fortschritt ist der Selbstbetrug quasi einprogrammiert. Wir entwickeln uns mit der Wissenschaft mit, doch bestimmte Eigenschaften unseres Hirns gehen dabei verloren. Manchmal habe ich das Gefühl, je klüger die Maschinen werden, desto rückständiger wirken die Menschen. Wir müssen uns nichts vormachen, alle sogenannten „Entwicklungen“ und „Entdeckungen“ sind bloß Versuche, die Welt draußen zu erforschen und zu verstehen, die Welt, die es vor uns gab und nach uns geben wird. Wir sind noch immer in unserem Wissen sehr beschränkt. Die klugen Köpfe sagen heute, unsere Möglichkeiten sind nicht endlos, trotz aller Anstrengungen bleibt ein Großteil der Welt für uns hinter einem dunklen Vorhang verborgen. Der Vorhang bewegt sich, als würde jemand dahinter atmen. Wir schauen uns die Falten auf dem Vorhang an und versuchen uns vorzustellen, was sich dahinter verbirgt.

Mich beunruhigt, dass unsere auf Computer aufgebaute Zivilisation sehr zart ist. Was passiert, wenn wir es nicht schaffen, das angehäufte Wissen weiterzugeben? Wenn die Energiequellen erschöpft sind, wird ein Großteil der auf Computern gespeicherten Informationen verlorengehen. Wir sind in der Evolution der Menschheit auf der fragilsten Etappe, wir bewegen uns auf sehr dünnem Eis. Wir haben keine Pyramiden geschaffen, keine Rembrandts, keine barocken Schlösser. Alles was wir haben, sind Laptops, Telefone, Autos und Marzipan. Was bleibt, wenn der Strom ausfällt? Welche Steine werden die Menschen bewundern, die nach uns kommen? Dominosteine?

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort