Interview: Gerhard Wiese "Wir wollten Sühne für die Auschwitz-Opfer"

Der Jurist war als junger Staatsanwalt an den Frankfurter Auschwitzprozessen beteiligt, bei denen ab 1963 gegen Mitglieder der Lagermannschaft des Vernichtungslagers verhandelt wurde. Nun erzählt ein Spielfilm die Vorgeschichte.

Was wussten Sie von Auschwitz, bevor Sie 1962 als Staatsanwalt zu dem Prozess hinzugezogen wurden, um die Anklageschrift zu verfassen?

Wiese Wenig. Ich kannte den Name, wusste, dass Auschwitz ein KZ war wie andere - Sobibor, Treblinka, aber Einzelheiten kannte ich nicht.

Was haben Sie bei Ihrer Arbeit erfahren?

Wiese Ich habe die Anklageschrift für zwei der Haupttäter im Prozess geschrieben, die beide zu lebenslänglich verurteilt wurden. Es war also mein täglich Brot bei der Arbeit, von Mord und Totschlag zu lesen. Ich habe vor der Hauptverhandlung aber weder einen Angeklagten, noch einen Zeugen gesehen, nur den letzten Lagerkommandaten von Auschwitz, Richard Baer. Ich hatte Bereitschaftsdienst, als er in der Untersuchungshaft starb. Also wurde ich gerufen, habe die Leiche des Mannes gesehen und die Obduktion angeordnet.

Sie haben auf tausenden Seiten von den Greueltaten in Auschwitz gelesen, im Prozess Zeugen gehört - hat das Ihr Geschichtsbild verändert?

Wiese Man wird in eine Nation und damit in deren Geschichte hineingeboren, die kann man nicht abstreifen, damit muss man sich auseinandersetzen. Natürlich war ich erschüttert von allem, was ich las. Anfangs habe ich noch geglaubt, dass nur die SS Verbrechen begangen hat. Von Kollegen, die andere Verfahren bearbeiteten, hörte ich dann aber, dass auch andere Einheiten beteiligt waren, ich hörte von Polizei-Erschießungsaktionen in Litauen, auch von Taten, die Einheiten der Wehrmacht angelastet wurden. Das hat meinen Blick auf die NS-Zeit verändert.

War es für Sie eine Auszeichnung, 1962 zur Vorbereitung der Auschwitzprozesse hinzugezogen zu werden oder gab es Vorbehalte?

Wiese Meine Kollegen Joachim Kügler und Georg Vogel haben den Prozess ab 1958 vorbereitet, man traf sich bei Tisch, ich wusste, was sie taten, aber ich war überrascht, als ich mit nur 35 Jahren hinzugezogen wurde. Ich habe das als Vertrauensbeweis verstanden, aber welche Wirkung der Prozess entfalten würde, bis heute, das habe ich damals noch nicht geahnt.

Der Prozess hatte Ausmaße, die es in der jungen Bundesrepublik noch nicht gegeben hatte. Was war damals Ihre größte Schwierigkeit?

Wiese Die technische Ausrüstung. Wir hatten noch keine Computer, kein Internet, die Behörden waren nicht vernetzt. Wir haben auf der Schreibmaschine 700 Seiten Anklageschrift verfasst, diese wurde auf Matrizen geschrieben und dann von Hand vervielfältigt. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.

Und inhaltliche Schwierigkeiten?

Wiese Da gab es eigentlich keine. Die Taten der beiden Beschuldigten, mit denen ich mich beschäftigte, waren gut dokumentiert, vielfach bezeugt, es gab keine Schwierigkeiten, die Anklageschrift zu verfassen.

Der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hat die Prozesse überhaupt erst nach Frankfurt geholt. Was war er für ein Mensch?

Wiese Ich bin ihm bereits als Referendar begegnet, denn er hatte die Angewohnheit, selbst Referendare von Zeit zu Zeit zu sich zu holen. Als er hörte, dass ich aus Berlin komme, hat er mich auf den Wiederaufbau der Gedächtniskirche angesprochen. Ich war für den Aufbau, er dagegen, in solchen Fragen war er vehement. Er hatte eine impulsive Art und hat seine Meinung immer klipp und klar geäußert.

Hat der israelische Geheimdienst Mossad, zu dem Fritz Bauer Kontakte hatte, für Ihre Arbeit eine Rolle gespielt?

Wiese Nein, in keinster Weise. Da kann es nur Spekulationen geben. Wir wussten, dass die Fahndung nach dem Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele lief, mein Kollege Kügler war darin involviert, er ist öfter nach Günzburg gefahren oder in die Schweiz, wenn uns zugetragen wurde, dass Mengele dort auftauchen könnte, leider immer ohne Erfolg.

Welche Wirkung hatte der Prozess für die deutsche Rechtsprechung?

Wiese Der Prozess hat rechtskräftig festgestellt, was in Auschwitz passiert ist. Danach konnte keiner mehr behaupten, Gaskammern habe es nicht gegeben. In der Rechtssprechung an sich haben wir natürlich geltendes Recht angewandt, da sind wir keine neuen Wege gegangen. Wir mussten anklagen, Schuld beweisen, urteilen, konnte keine Schuld bewiesen werden, musste freigesprochen werden. Es hat ja auch zwei Freisprüche gegeben. Die Männer waren in Auschwitz, das konnten wir beweisen, aber wir konnten ihnen weder durch Dokumente noch durch Zeugen nachweisen, dass sie Beihilfe geleistet haben. In späteren Verfahren sollte die Anwesenheit in einem Vernichtungslager allein schon für eine Verurteilung ausreichen. Auf dieser Grundlage ist John Demjanjuk in München verurteilt worden. Bei uns galt diese Rechtsauffassung noch nicht.

Haben Sie sich je die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist, im Angesicht von Auschwitz mit rechtlichen Mitteln Gerechtigkeit herzustellen?

Wiese Nein, mit den Mitteln der Strafjustiz geht das nicht.

Was wollten Sie dann erreichen?

Wiese Sühne. Das ist ja auch ein Strafzweck. Leider kam sie viel zu spät, weil man dachte, dass durch die Prozesse der Alliierten bereits alles erledigt sei.

Was halten Sie von dem Spielfilm, der nun von den Prozessen erzählt?

Wiese Spielfilme gehorchen ihren eigenen Regeln. Das Drehbuch stimmt nicht ganz mit der Wirklichkeit überein, aber es ist ja auch ein Spielfilm und keine Doku, und die Filmemacher und der Hauptdarsteller Alexander Fehling haben sich ausführlich mit mir unterhalten, wollten Details wissen wie, ob wir uns gesiezt haben oder was auf meinem Schreibtisch stand. Ich finde den Film sehr gelungen und hoffe, dass er viele Zuschauer findet.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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