Rüdiger Safranski "Wir sind nur Zaungäste der Katastrophe"

Der 70-jährige Philosoph und Autor hat ein Buch über die Zeit und ihre Folgen geschrieben.

FRANKFURT Rüdiger Safranski ist ein Autor und Philosoph, dessen Werke über Heidegger und Schopenhauer, die Romantik und das Böse in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Jetzt hat der 70-Jährige ein spannendes Buch über die "Zeit" geschrieben (Hanser-Verlag, 272 Seiten, 24,99 Euro).

Seit wann gibt es die Zeit - und was macht sie aus uns?

Safranski Augustin gab auf die Frage, was tat Gott, ehe er die Welt schuf, die Antwort: Tja, da schuf er die Hölle für alle, die so albern fragen. Da fängt es an: Wir können uns ein Sein ohne Zeit nicht vorstellen. Darauf folgt eine der philosophischen Zentralfragen: Was überhaupt ist Zeit? Zeit ist die Dauer von Ereignissen. So wie Dinge eine Ausdehnung im Raum haben, haben Ereignisse eine Ausdehnung in der Zeit. Ohne Ereignisse existiert also keine Zeit. Ihre Frage, seit wann es die Zeit gibt, ist also identisch mit der Frage: Wie hat alles angefangen?

Woran liegt es, dass wir uns mit fortgeschrittenem Alter zunehmend mit der Zeit beschäftigen? Sie wären im Alter von 20 Jahren kaum auf die Idee zu einem Buch über die Zeit gekommen.

Safranski Das ist meine These, dass Ereignisse eine gewisse Zeit brauchen. Mit abnehmender Intensität von Ereignissen kann plötzlich die Zeit durch den immer dünner werdenden Ereignisteppich hindurchscheinen. Unser verstärktes Wahrnehmen der Zeit als Zeit ist ein Zeichen für diese abnehmende Intensität. Darum habe ich mein Buch mit der Langeweile begonnen - sie ist das Rendezvous mit dem reinen Zeitvergehen als Folge von nur noch dünnen Ereignissen. Für mich ist die Langeweile die existenzielle Pforte, um zu einer prominenten Erfahrung von Zeit zu kommen.

Sie haben mit der Arbeit am Buch die Zeit als intensives Erlebnis erfahren. Ist Ihr Werk über die Zeit für Sie zugleich das beste Buch aller Zeiten?

Safranski Wenn man das Nachdenken über die Zeit mit einer großen Intensität macht, dann gibt es diesen Moment der Hingabe, in der die Zeit verschwindet. Diese Erfahrung macht jeder. Das ist der Moment, in dem man nicht mehr an sich denkt und in dem aufgeht, was in dem Moment der Hingabe passiert. Das kann die Liebe sein, ein glücklicher Moment des Schreibens oder auch ein Gespräch. Momente der Hingabe sind kleine Ewigkeiten.

Wenn wir mit der Zukunft planen -mit Versicherungen, Rentenzahlungen usw. -, versuchen wir dann, der Zeit zu entfliehen?

Safranski Was Sie beschreiben, sind Phänomene der Sorge. Sie ist das diensthabende Organ der Zeiterfahrung, weil wir unserer Zeit auch voraus sein können und eben nicht in der Gegenwart einfach ruhen. Wir sind uns immer voraus und versuchen uns dann darauf einzurichten, was kommen wird. Wir wollen eine Sicherheit haben, die wir gar nicht haben können.

Auf der anderen Seite verdrängen wir auch die zukünftige Zeit und verhalten uns höchst fahrlässig zeitlos. Etwa im hemmungslosen Verbrauch von Ressourcen auf diese Erde.

Safranski Da legen wir eine große Sorglosigkeit an den Tag, weil das Besorgniserregende eine so große Zeitdimension hat, dass es für uns nicht mehr relevant ist. Dann entsteht eine sorglose Fröhlichkeit. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes eben eine Gesellschaft sogenannter Endverbraucher. Mit dieser Mentalität ist man nur Zaungast der Katastrophe.

(los)
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