Klassik im Weltkrieg Wilhelm Furtwängler – Adolf Hitlers Lieblingsdirigent

Berlin · Von 1939 bis 1945 gaben die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler viele Radiokonzerte. Für die Hörer waren sie Zeichen der Menschlichkeit in schweren Zeiten. Jetzt kann man diese Aufführungen wieder hören.

 Wilhelm Furtwängler hat in der alten Berliner Philharmonie ein Konzert dirigiert. Links vorn Adolf Hitler (3. v. l.), Hermann Göring und Joseph Goebbels (links und rechts daneben).

Wilhelm Furtwängler hat in der alten Berliner Philharmonie ein Konzert dirigiert. Links vorn Adolf Hitler (3. v. l.), Hermann Göring und Joseph Goebbels (links und rechts daneben).

Foto: picture alliance / United Archiv/dpa

Es war der 20. März 1944. Die britische Luftwaffe flog vernichtende Angriffe auf Frankfurt; die Paulskirche, die Katharinenkirche und große Teile der Altstadt wurden zerstört. Am selben Tag saßen viele Deutsche vor ihrem Radio und hörten Ludwig van Beethovens 6. Sinfonie F-Dur, die „Pastorale“, dirigiert von Wilhelm Furtwängler. Der dachte nicht daran, düster Abschied zu nehmen, sein Beethoven sang immer noch „heitere Empfindungen“ (wie der erste Satz überschrieben ist), und selten hat man das dermaßen langsam und zelebriert gehört. Dieser Beethoven, so konnte man glauben, stemmte sich gegen den Untergang der Kultur, er beschwor das Heile im Unheilen, er errichtete ein philharmonisches Gebäude aus eigener Kraft. Es war wie Wiederaufbau nach Noten.

Adolf Hitler hat sich dieses Konzert nicht live, sondern später angehört, und zwar auf einem Bandgerät, das die Firma AEG in Zusammenarbeit mit den Tontechnikern des damaligen Reichsrundfunks eigens für ihn und wenige Auserwählte konstruiert hatte: das Magnetofon K 5. Der Diktator war ja schon früh zum glühenden Anhänger Furtwänglers geworden, und es gibt kaum ein Dokument, das diese seltsame Gefolgschaft bannender abbildet als jenes Foto vom 3. Mai 1935, als Furtwängler in der alten Berliner Philharmonie abermals seinen vergötterten Beethoven aufführte. Hinterher sieht man in der ersten Reihe Adolf Hitler, Hermann Göring und Joseph Goebbels wie Chorknaben sitzen, angeregt applaudieren und fast andächtig zum Dirigenten hinaufschauen, der sich stellvertretend für sein Orchester, die Berliner Philharmoniker, zum Publikum verbeugt. Das Publikum klatscht sicherheitshalber für alle. Im Hintergrund hängt eine Hakenkreuz-Fahne, Vorzeichen einer Unzeit, das Beethovens Partituren indes nicht neu zu intonieren vermochte. Es-Dur blieb Es-Dur, auch unter der SS.

Die Obersten wussten, was sie an ihrem Furtwängler hatten. Dem ging es immer ums Festhalten, ums Bewahren, zugleich aber auch ums Entzünden. In diesem Spagat fühlte sich der „Führer“ gut getroffen und gespiegelt. Furtwänglers Interpretationen hatten in ihren vielen besten Momenten etwas Überwältigendes, sie waren hochgradig infektiös, und sie bedienten eine fast mit Händen zu greifende Erlösungsmetaphorik. Nirgendwo merkt man das brennender als in Beethovens Fünfter, der Furtwängler das Schicksalsmotiv des Beginns schier einstanzte und die er im Finalsatz – dank eines fast verzehrenden, himmelstürmenden Temposchubs – zu den Sternen abheben ließ. Das „per aspera ad astra“: Zum Klang wurde ein Prinzip.

Auch das Finale von Beethovens Siebter begriff Furtwängler als Zone der Entfesselung, die nach drei eher mühsamen Sätzen endlich erreicht war. Wagners Wort von der „Apotheose des Tanzes“ verstand der Dirigent als Einladung zu einem Bacchanal. Nicht anders in Brahms‘ Erster, gesendet am 22. Januar 1945 aus dem Berliner Admiralspalast: Da fegte Furtwängler durch den Schlusssatz (wiederum C-Dur), als gäbe es kein Morgen, als seien nur noch fünf Minuten auf der Uhr und müsse heute alles besorgt werden, vor allem das Pathos des Jubels. Musik unter seiner Leitung klang manchmal wie eine fanatische Durchhalteparole. Hitler liebte diesen heroisch-übermenschlichen Schwung nach Furtwängler-Art: Er verschaffte ihm, dem Geblendeten, eine Ahnung, wie der Soundtrack zum „Endsieg“ klingen könnte.

Das Repertoire dieses außergewöhnlichen Musikers Gustav Heinrich Ernst Martin Wilhelm Furtwängler (1886 bis 1954) war vergleichsweise klein, zwischen Händel und Bruckner kannte er alles, doch sobald die Noten auf dem Pult lagen, ereignete sich immer eine jungfräuliche Begegnung. Furtwängler war kein Dogmatiker, seine Proben waren zwar streng, ließen dem Musizieren aber jene Fluchttüren der Spontaneität, die sich in der Inspiration des Augenblicks wie durch Wunderhand öffneten. Der Taktstock des Dirigenten war dabei alles andere als zuverlässig, im Gegenteil: Furtwänglers Schlagtechnik operierte mit der Magie der Unschärfe, die Musiker wussten bei seinen gestischen Blitzen nie genau, auf der wievielten Zacke nun die „Eins“ im Takt zu verorten war.

Jetzt kann man all dies in einer wahrhaft bedeutenden Edition bestaunen; die Berliner Philharmoniker haben einen großen Teil der Radiokonzerte aus den Jahren 1939 bis 1945 in einer 22 CDs umfassenden, reichhaltig kommentierten Luxus-Ausgabe vorgelegt. Der Hörer ist oft bewegt, manchmal auch erschüttert: philharmonische Weihe und vorgebliche Normalität in Zeiten des Weltkriegs. Zugleich besteht die Gefahr einer gewissen Desillusionierung, wenn sich eine sozusagen neutrale Überprüfung im Abstand von bald 80 Jahren von der zeithistorischen Dimension befreit und einfach nur fragt: Wie gut haben sie wirklich gespielt?

Bei diesen Aufführungen zwischen Anton Bruckners Fünfter und Johannes Brahms‘ Vierter, Richard Wagners „Meistersinger“-Vorspiel und Franz Schuberts „großer“ C-Dur-Sinfonie, alle definiert von Furtwänglers persönlichem Jupiter Beethoven, hört man beispielsweise, dass die vielbeschworene Virtuosität jener Aufführungen eine Legende ist. Stellenweise klappert – als fehle es an einer verlässlichen höheren Navigation – das Musizieren zum Steinerweichen.

Mit viel gutem Willen kann man den auseinanderdriftenden ersten Akkorden in Schumanns a-Moll-Klavierkonzert (mit dem wunderbaren Pianisten Walter Gieseking) etwas Improvisatorisches oder nicht ganz zu Ende Geprobtes zubilligen. Man kann aber auch sagen: Hier hört man, dass Furtwänglers Genie doch deutliche Grenzen im Handwerklichen hatte. Manchmal wurden solche Entgleisungen neutralisiert durch die Unmittelbarkeit des Musizierens, durch das geisterhafte „Espressivo“ als Biegsamkeit metrischer Normwerte.

Furtwängler wähnte sich im Besitz einer Lizenz, Notentext als dehnbare Kategorie, als Auslegungssache zu betrachten. Er durfte das, selbst bei Beethoven. Dies war sein Heilmittel gegen die angeblich mechanistische Starre seines ästhetischen Erzfeindes, des italienischen Dirigenten Arturo Toscanini. Während der stets eisern im Tempo blieb, riss Furtwängler alle und alles mit sich fort. Im Gegensatz gab es langsame Sätze, die bei ihm fast nicht von der Stelle kamen.

Das mit der Lizenz war tatsächlich so. Furtwängler war gleichsam der reichsdeutsche Generalmusikdirektor, gewiss der letzte Pultstar, dem noch im Krieg alle Freiheiten der „Gottbegnadeten“ gewährt wurden. Seit 1944 durfte er mit Billigung des NS-Regimes in der Schweiz leben. Als es ihm in den letzten Kriegsmonaten in Berlin zu ungemütlich wurde, blieb er endgültig in Luzern. Der „Staatsrat“ nach Hitlers Gnaden erwies sich allerdings nicht ganz als Strammsteher, wie die Nazis es wohl erwartet hatten. Zwar dirigierte er bei Parteifesten, bei Hitlers Geburtstag, bei Propaganda-Aktionen und natürlich in Bayreuth, Hitlers mythischem Revier. Doch nie soll der Dirigent mit „Heil Hitler“ gegrüßt, nie salutiert haben, selbst wenn Parteibonzen in der Nähe waren.

Politik und Weltanschauungen waren ihm gleichgültig. Manchen Juden rettete er vor dem Holocaust, einzig weil er ein guter Musiker war. Furtwängler wollte dirigieren und nur mit den besten Leuten zu tun haben. In dieser Haltung mischten sich die Ignoranz und die Prinzipientreue einer erratischen Persönlichkeit. Ganz gewiss war er ein Opportunist. Nach dem Krieg wurde ihm vorgeworfen, er habe sich zum Büttel des „Dritten Reichs“ gemacht. Man kann es auch andersherum sehen: In einer Zeit, da die besten Musiker Deutschland verließen, blieb Furtwängler im Land, wie eine Eiche, die es in ihrer Sehnsucht nach der freien Luft der Musik nicht störte oder die nicht bemerkte, dass sich Säue an ihr rieben.

Die Bänder jener Konzerte waren übrigens lange verschollen und kamen auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Berlin: Wie viele andere Kriegsgüter lagerten sie unerreichbar in sowjetischen Archiven, bis die Tauwetter-Politik der 90er Jahre plötzlich doch eine Rückführung in Aussicht stellte. Bis zur Digitalisierung und einer für damalige Verhältnisse erstaunlichen Klangqualität war es jedoch ein weiter Weg. Man ahnt jedenfalls, was diese Konzerte damals für die Menschen waren, die ihnen live oder an den Rundfunkgeräten lauschten: utopischer Trost, moralische Unterstützung, Nahrung für die Hoffnung, dass die gewaltige Schönheit der Musik der hässlichen Gewalt des Ungeistes am Ende überlegen sein möge. Ja, die Hörer erlebten eine Besinnung auf das Alte, Gute und Wahre in verderblichen Zeiten – bis im Konzert die Sirenen aufheulten und alle in die Luftschutzkeller fliehen mussten.

  Wilhelm Furtwängler um 1920

Wilhelm Furtwängler um 1920

Foto: dpa

Furtwängler ahnte das schon früh, als er in einem Brief von „schweren Zeiten“ sprach. Das hätte ihm Goebbels, dem der Dirigent immer ein wenig suspekt war, möglicherweise um die Ohren gehauen. Der hatte Furtwänglers Betragen einmal sogar „volksgerichtsreif“ genannt. Wahrscheinlich hat Hitler da besänftigend eingegriffen, weil selbst der Tyrann in seinem Innersten manchmal von Rührung ergriffen wurde und womöglich ahnte, dass Beethoven vielleicht doch die höhere Instanz war – und dieser Furtwängler kein anderer als Beethovens Sachwalter, Vollstrecker und Vollender.

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