Wie werktreu muss Opernregie sein?

Salzburg Auf ihrer Suche nach dem angeblichen Original werden viele Besucher gerade von Festspielen regelmäßig herb enttäuscht. Für ihr teures Geld wünschen sie wenigstens hier, dass die Werke "heil" bleiben; "durchgeknallte" Regisseure, die "Don Giovanni" am Bahnhofskiosk spielen lassen, erleben sie, so sagen manche, täglich daheim.

Die Festspiele in Bayreuth und Salzburg haben soeben mehrere Produktionen herausgebracht, an denen sich die Geister schieden. Nicolas Stemann verlegte den "Tannhäuser" in Bayreuth in einen kühlen Bio-Park, Sebastian Baumgarten dekonstruierte Goethes beide "Fäuste" in Salzburg zum disparaten Patchwork-Happening, Christof Loy funktionierte dort Richard Strauss' märchenhaft-mythische "Frau ohne Schatten" unvorhergesehen zu einer Schallplattenaufnahme in Wiens Sofiensälen um.

Nicht wenige empfanden dies als Entfernung des jeweiligen Regisseurs von der Substanz des Werks. Dagegen blieb Peter Stein in Verdis "Macbeth" von Buhs verschont; er bot gigantisches Ausstattungstheater alter Art. Ob es bei Stein auch alte Prächtigkeit war, ist nach Meinung vieler Kritiker allerdings zweifelhaft. Stein bewegte sich auf der einen Polkappe der inszenatorischen Möglichkeiten, seine Kollegen besiedelten die andere.

In jedem Fall ist die Frage erlaubt, ob nicht jede Aufführung die Erkennbarkeit der Vorlage garantieren sollte. Leider bekommt man bei dieser Forderung bisweilen Beifall von der falschen Seite – von Leuten, denen es nicht historisch, nicht gestrig genug sein kann. Sie argumentieren mit einer mehr oder weniger fiktiven Werktreue. Derlei Schein-Debatten verfangen nie, weil es im lebendigen Theater keine Originale gibt. Das Werk, dem man treu sein will, wird vielmehr Abend für Abend neu definiert, es verändert sich, oft zu seinem Nutzen. Als Patrice Chéreau in den 70er Jahren den "Ring" in Bayreuth inszenierte, schlug ihm zunächst Hass entgegen. Vier Jahre später hatte man ihn verstanden, seitdem gilt sein "Ring" als Kult.

Was bedeutet das jenseits der Festspiele für den Musiktheater-Alltag? Jeder darf sich über die echte oder angebliche Schändung eines Kunstwerks durch Regisseure empören, oft hilft aber Gelassenheit. Wenn indes die Intendanten der Opernhäuser selbst glauben, auf sie komme handwerklicher Regie-Mist zu, sollten sie häufiger auf die Bremse treten oder zur Korrektur mahnen. Gelassenheit ist das eine, sensible Kontrolle des Niveaus das andere. Beides hilft auf dem Weg, dass Theater- und Opernabende erkennbar das Werk durchscheinen lassen und hinreißend geraten – gern mit einem Kiosk auf der Bühne.

(RP)
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