Jon Ronson untersucht Shitstorms Wie ein Tweet das Leben zerstören kann

Düsseldorf · Ein schlechter Scherz im Internet kann die Reputation kosten: Jon Ronson hat für sein neues Buch Opfer von Shitstorms interviewt.

 Justine Sacco hat drastisch erlebt, wie einer ihrer Tweets ihr Leben ausgehebelt hat.

Justine Sacco hat drastisch erlebt, wie einer ihrer Tweets ihr Leben ausgehebelt hat.

Foto: Twitter

Justine Sacco flog von New York nach Südafrika, wo sie über Weihnachten ihre Eltern besuchen wollte. Die Leiterin der Kommunikationsabteilung in einem US-Medienunternehmen hatte einen Zwischenstopp in Heathrow, ihr war ein bisschen langweilig, deshalb twitterte sie launige Betrachtungen über das Reisen. Sie klagte über miefende Sitznachbarn und schlechte Sandwiches, und kurz bevor sie ins Flugzeug stieg, sendete sie diesen Tweet: "Auf nach Afrika. Hoffe, ich bekomme kein Aids. Nur Spaß. Ich bin ja weiß." Sie kicherte über sich selbst, sie fand sich lustig.


Elf Stunden dauerte der Flug, Sacco schlief viel, und nach der Landung schaltete sie ihr Telefon wieder ein. Sofort erschien die SMS einer Freundin: "Tut mir leid, was mit dir passiert." Sacco begriff nicht. Dann klärten hunderte Hass-Mails sie auf: Ihr Tweet war tausendfach geteilt worden, Nachrichtenportale berichteten; alle warfen ihr vor, rassistisch zu sein. Ihr Arbeitgeber hatte sie entlassen, die Familie sich von ihr losgesagt. Sacco war während des Flugs in einen Shitstorm geraten, sie hatte alles verloren.

Der Fall der 30-jährigen Frau ist das berühmteste Beispiel dafür, wie grausam soziale Medien sein können und wie mächtig. Der Journalist Jon Ronson hat über das Phänomen des Shitstorms nun ein Buch geschrieben, "So You've Been Publicly Shamed". Es liest sich wie eine Horrorstory aus der Realität. Ständig fragt man: Kann mir das auch passieren? Ronson lässt keinen Zweifel daran, wie die Antwort lautet.

Er besuchte Opfer solcher öffentlichen Demütigungen, und jedes versicherte, nichts Böses im Sinn gehabt zu haben, bloß gedankenlos gewesen zu sein. Justine Sacco sagte, sie finde, dass Amerikaner in Bezug auf die Probleme der Dritten Welt wie in einer Blase lebten. Sie habe mit ihrem Tweet darauf angespielt, sie habe sarkastisch sein wollen, nicht menschenfeindlich.

Ähnlich war es bei Lindsey Stone. Die Mitarbeiterin einer Gesundheitsorganisation kam zu zweifelhaftem Ruhm, weil sie an der Kriegs-Gedenkstätte im amerikanischen Arlington vor einem Schild posierte, auf dem "Stille und Respekt" stand. Sie ließ sich mit gerecktem Mittelfinger davor fotografieren und tat so, als schreie sie das Schild an. Das Foto postete sie bei Facebook. Kurz danach erhielt sie Todesdrohungen, so etwas hätten die Gefallenen nicht verdient, hieß es. Bald war sie ihren Job los. Einen neuen Arbeitgeber fand sie nicht, weil jeder Interessent, der ihren Namen googelte, sofort auf das Foto stieß.

Privatscherz wird zum Skandal

Lindsey Stone erklärt in Jon Ronsons Buch, wie es zu dem Foto kam. Sie pflegte einen Privatscherz mit ihrem Lebensgefährten: Auf Reisen fotografierten sich die beiden vor Schildern und stellten dabei jeweils das Gegenteil von dem dar, was die Aufschriften verlangten. Wenig geschmackssicher vielleicht, unnötig auch, aber doch bloß ein Joke.

Ronson traf sich auch mit Initiatoren von Shitstorms. Meist sei nicht Sadismus ihr Antrieb, nicht mal Schadenfreude. Der Auslöser sei der Impuls, schlechtem Verhalten entgegenzuwirken und die Welt zu verbessern. Sie berechneten die Folgen ihres Tuns ebenso wenig wie die Gegenseite.

Ein Beispiel dafür ist Adria Richards. Sie hörte einen Vortrag auf einer Technik-Konferenz, und sie war genervt von zwei Kollegen, die hinter ihr saßen. Die flüsterten einander unablässig zweideutige Witzchen über USB-Sticks zu. Richard fotografierte die beiden, postete das Foto bei Twitter und schrieb einen der pubertären Witze unter das Bild. Ihre 12.000 Follower verbreiteten das Foto, und noch während des Vortrags wurden die Männer des Saals verwiesen. Einer von ihnen verlor wenige Tage danach seinen Job.

"Shitstorms kennen ausschließlich Opfer"

Ronsons These ist: Shitstorms kennen ausschließlich Opfer. Der öffentlich Beschämte ist das erste, der Initiator des Shitstorms das zweite. Im Falle von Adria Richards bedeutet das: Als bekannt wurde, dass der gefeuerte Mann Familienvater ist, wurde sie für ihr Foto beschimpft und mit dem Tod bedroht. Der sogenannte Backlash setze ein. Auch sie verlor ihren Job. Die Kreuzzügler des Internets werden zumeist selbst weggespült, wenn die Gegenbewegung einsetze, schreibt Ronson. Die sozialen Medien könnten unverhofft zu Gerichtshöfen werden, und die Gesetze, nach denen dort geurteilt werde, seien nicht immer klar.

Wie eine Höllenvision von Pieter Breughel liest sich der Fall von Jonah Lehrer. Der junge Journalist war der Star des Magazins "Wired", er schrieb wissenschaftlich fundiert und sehr cool über zeitgenössische Phänomene. Seine Bücher wurden Bestseller, seine Vortragshonorare waren fünfstellig, und dann warb ihn der "New Yorker" ab. Ein Kollege fand indes heraus, dass er ein Zitat von Bob Dylan in einem seiner Bücher schlichtweg erfunden hatte.

Am Tag, als der Artikel über seine Verfehlung erschien, wurde Lehrer entlassen, seine Bücher wurden vom Markt genommen. Und es kam noch schlimmer. Man lud Lehrer auf eine Konferenz ein. Er sollte sich öffentlich entschuldigen und sozusagen ein neues Leben beginnen. Die zweite Chance. Der Clou: Hinter ihm war eine Großleinwand gespannt, auf der Zuhörer die Rede per Twitter bewerten konnten. Die Tweets wurden eingeblendet, die Rede im Internet übertragen.

Zunächst lief es gut, die Tweets dokumentierten, dass man Lehrer verzieh. Doch dann wollte Lehrer wissenschaftlich begründen, warum er sich falsch verhalten hatte. Eine neurologische Fehlschaltung als Ursache des Vergehens. Von da an hagelte es Häme und Hass. Lehrer war Anfang 30 und am Ende. Und der Mann, der all das mit seinem Artikel in Gang gebracht hatte, kann heute nicht mehr schlafen, weil er Schuldgefühle hat.

Lehrer wäre im 18. Jahrhundert bei den Puritanern in Neuengland weniger hart bestraft worden als heute, schreibt Ronson. Das öffentliche Anklagen, das Beschämen sei die Krankheit des 21. Jahrhunderts, meint er. Und die Verurteilten hätten kaum eine Chance auf ein Leben nach der Verfehlung.

Lindsey Stone, die Frau mit dem Foto von der Kriegsgedenkstätte, hat eine Spezialfirma beauftragt, die Google-Suche nach ihrem Namen zu manipulieren. Deren Mitarbeiter schrieben so viel Positives über Stone ins Internet, dass man das Foto nun erst auf Seite zwei der Google-Suche findet. Richard zahlte ein Vermögen für die halbgare Wiederherstellung ihres Rufs.

Das Internet, so Ronson, sei ein Glashaus. Denk nach, bevor du auf "senden" drückst, sagt er. Und: "Wer noch nie einen schlechten Witz getwittert hat, werfe den ersten Stein."

(RP)
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