Leipziger Buchpreis wird an Maria Stepanova verliehen Die russische Kassandra

Berlin/Leipzig · In ihren Gedichten hat sie den Krieg in der Ukraine vorausgeahnt. Zum Auftakt der Frühjahrsbuchmesse wird die große russische Lyrikerin Maria Stepanova mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.

 Die in Moskau geborene Erzählerin, Lyrikerin und Essayistin Maria Stepanova (50).

Die in Moskau geborene Erzählerin, Lyrikerin und Essayistin Maria Stepanova (50).

Foto: Lorena Sopena / Getty Images

Und plötzlich gilt sie als Kassandra. Als Weissagerin und Unglückverkünderin. Als eine, die alles kommen sah oder wenigstens erahnte, der man aber kaum Gehör schenkte, weil sie nicht zu den Mächtigen und Lauten dieser Welt gehört, sondern eine Dichterin ist. Das Etikett der Hell- und Weitsichtigen trägt Maria Stepanova spätestens seit ihrem „Winterpoem 20/21“, ihrem fließenden Langgedicht, das vor zwei Jahren in Russland und vor wenigen Tagen auch hierzulande erschienen ist. Und darin lesen sich viele Verse eben wie die Ahnung auf kommende Kriege und Gewalttaten. Ein Buch, „geschrieben im Schatten der Zeit“. Doch wie kann man verhindern, ihre Poesie nicht sofort mit der Gegenwart abzugleichen bei Versen wie diesen: „Wir lecken einander die Seele zur Nacht / Morgens gehen wir zum Zählappell / Noch halten wir durch, auch wenn es uns schwerfällt / Dem warmen Blutgeruch zu widerstehen …“

Normalerweise werden die Rufe der Kassandras wenig geschätzt, bescheinigen sie doch allen anderen mangelnde Umsicht. Anders bei Maria Stepanova. Zum Auftakt der Frühjahrsbuchmesse wird die gebürtige Moskauerin mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt. Die 50-Jährige ist neben etlichen Historikern und Essayisten damit eine der wenigen Dichterinnen, die mit dieser hohen Auszeichnung dekoriert wird.

Natürlich will Stepanova keine Magierin sein, wie sie uns aus Berlin sagt, ihrem Exil seit mehr als einem Jahr. Erst die Zeit hat sie zur Hellsichtigen gemacht, der Krieg vor allem und mit ihm die Realität des doch Unvorstellbaren. Tatsächlich spielt ihr Winterpoem auf einen anderen Krieg Russlands an, nämlich auf den gegen Nazi-Deutschland, den sogenannten Heiligen Winter 1941. Doch Stepanova ist keine Chronistin, die sich auf dieses oder jenes Ereignis beruft. Sie ist eine Erkunderin der menschlichen Seele, des Leids, der Hoffnung, der Trauer. Das hört sich alles sehr pathetisch an, doch wer das Winterpoem liest und seine Worte unaufdringlich wirken lässt, bekommt wenigstens eine Ahnung davon, was Existenz heißen kann und welche Worte dafür gut zu sein scheinen. „Am Ende ist immer Winter, / Alle Wege münden direkt in ihn“ heißt es bei ihr.

Die Geschichte des Winterpoems ist eigentlich die Geschichte der Pandemie. In dieser Zeit hatte sich Maria Stepanova in ihre Datscha 80 Kilometer hinter Moskau zurückgezogen. Fast zwei Jahre lebte sie auf dem Land, nur mit Büchern, dem Schnee, dem Licht. Was sie bis heute an diese Zeit so fasziniert: Auch dieses Leben sei eine Art Exil gewesen, ein Exil in der nackten Gegenwart, in der die Erfahrung der Vergangenheit unbedeutend und das Leben in der Zukunft unvorstellbar geworden ist. Die Gegenwart sei so zum einzig Notwendigen geraten. Aus heutiger Sicht mute diese in sich ruhende Zeit beinahe nostalgisch an, wie „eine Insel des Mythischen in der jüngeren Vergangenheit“.

Doch sei es nur eine Art „Windstille“ gewesen, die Einsamkeit als Ouvertüre vor dem Sturm des aktuellen Krieges in der Ukraine. In dieser Exilzeit wurden ihr andere Stimmen wichtig und mischten sich in ihre eigenen Verse: Ovids Briefe aus der Verbannung etwa, oder Texte von Sebald und Mandelstam, Puschkin und Brodsky. Einen Chor der Dichter versammelt sich in diesem Winterpoem zu einer Symphonie. Dichtung sei ein „absurdes vieläugiges Wesen mit vielen Mündern“, heißt es in einem ihrer früheren Gedichte.

Als dann die Pandemie vorbei war und der Krieg losbrach, mussten die Menschen nach ihren Worten eine Epochenwende erleben, bei der das vereinfachte archaische Weltbild des 20. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert überführt worden sei. Und wir alle mit „pseudohistorischem Müll“ in die Gedankenwelt Putins unweigerlich hineingezogen wurden. Dabei hatte sie noch die große Hoffnung gehegt, dass sich im gemeinsamem Krieg der Menschen gegen das Virus die Welt vielleicht als eine Schicksalsgemeinschaft begreifen und aller Hass endgültig verschwinden könnte.

Ihre Verse sprechen eine andere Sprache. Ihre Worte eilen der Dichterin voraus. Es falle ihr schwer, das Poem wiederzulesen. Vor dem Hintergrund des Krieges, der in ihren Augen „nicht zuletzt ein Krieg um Erinnerung ist und dessen Ausgang unser Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft auf lange Sicht bestimmen wird“, sieht sie ihr Gedicht nicht mehr als eine Abfolge, sondern als „eine Figur des prekären Gleichgewichts, eines Schwankens zwischen der alten und der neuen Zeit“.

Nach dreijähriger Pandemiepause wird die Leipziger Buchmesse am Mittwochabend im Gewandhaus mit der Ehrung dieser großen, spannenden Dichterin wieder eröffnet, deren Gedichte in über 20 Sprachen übertragen wurden und die bekennt, dass der Krieg auch ihren Blick als Dichterin verändert habe. Sie schaue jetzt anders auf ihre eigenen Texte und die der anderen. Denn lange Zeit habe sie in dem Glauben gelebt, dass wir nach den Gewaltexzessen des 20. Jahrhunderts in einem „post-katastrophischen Zeitalter“ angekommen seien. Doch habe sie jetzt erkannt, dass es sich tatsächlich nur um ein Leben „im Vorfeld der Katastrophe“ gehandelt habe.

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