Leipzig Widmann – die Geigerin der Stunde

Leipzig · Carolin Widmann zählt zur den bedeutendsten Geigern der Gegenwart. Die 1976 in München geborene Künstlerin und Schwester des Komponisten Jörg Widmann gilt als Multitalent zwischen Bach und der Moderne. Schubladen hasst sie. Ihr Leben im Hamsterrad aber liebt sie.

Gelegentlich wird der Horizont in 14:58 Minuten um einen Kilometer erweitert. Dachte man bei großer Violinliteratur nicht immer an Bachs Solo-Werke, an die Sonate von Franck, an die Konzerte von Beethoven, Mendelssohn, Brahms, Sibelius, Tschaikowski, die Capricen von Paganini? Jetzt aber kommt dieses h-moll-Rondo von Schubert, raubt uns den Verstand und drängt mit Macht neben jene Chefstücke.

Für solche Neuordnungen bedarf es stets eines Entdeckers. In diesem Fall ist es die Geigerin Carolin Widmann, die mit dem Pianisten Alexander Lonquich bei ECM eine ganze Schubert-Platte aufgenommen hat. Aber niemand sollte Carolin Widmann als Schubert-Spezialistin ausrufen. Sie ist das Gegenteil der Fachlerin. Sie kann alles. Und das macht sie uns beinahe unheimlich.

Trotzdem ist sie aufrichtig entzückt, wenn der Interviewpartner ihr dieses Schubert-Rondo als sein neues Lieblingsstück nachrühmt. "Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freut – und zwar für dieses Stück. Das ist ja ein unglaublich musikantischer Schubert, mit wahnsinnig tollen Einfällen – und gar nicht dieser angeblich zerrissene, neurotische, am Abgrund wandelnde Komponist, als der Schubert uns so oft ans Herz gelegt wird."

Widmann, 1976 in München geboren, studierte bei Igor Ozim in Köln, bei Michèle Auclair in Boston und David Takeno in London. Diese Ausbildung wurde informell und intuitiv ergänzt durch den Alltag daheim: Sie ist die Schwester des Komponisten Jörg Widmann. Daheim war Experimentierstube, Klangerforschung, Phantasiesport. Bach, Brahms und Berg liefen im Geigenunterricht sozusagen als offizielle Bezugsgrößen mit.

Auf dem internationalen Parkett gibt es kaum Geiger, die so multipel veranlagt ist. Widmann spielt die Klassiker, tritt aber auch vehement für die Moderne ein. Schon auf ihrer Debütplatte 2006 riskierte sie die Capricci von Salvatore Sciarrino, höllische Musik zwischen Hochseilartistik und Schweigegelübde. Wer von ihrer Leidenschaft für Musik von heute frontal überwältigt werden will, muss ihre Homepage besuchen (www.carolinwidmann.com). Dort hat sie ein Video mit der haarsträubend schweren und schönen Sequenza VIII von Luciano Berio hochgeladen. Die stammt aus ihrem Geburtsjahr und ist, wie sie klingt, ein Lebensmotto Widmanns: singend, virtuos, diszipliniert, hungrig.

Im Gespräch ist Widmann geistesgegenwärtig, sie spricht druckreif, aber nie altklug. Von ihr geht Frische aus, Wagemut, ein bisschen wirkt die Künstlerin wie eine Piratenbraut. "Ich brauche Gegensätze, ich will mich nicht bei einem Komponisten ausruhen und mit ihm alt werden." Wenn sie Avantgarde spielt, hat das indes immer Auswirkungen auf die Art, mit der sie etwa die abgründigen Schumann-Sonaten interpretiert. Dass sie viel übt, um auf allen Saiten tanzen zu können, ist selbstverständlich. "Doch ich liebe das Hamsterrad, in dem ich stecke. Ich liebe das, was ich gerade mache. Und ich will noch so viel loswerden." In einigen Wochen spielt sie die Uraufführung des Violinkonzerts von Rebecca Saunders.

Wie bewältigt sie dieses Pensum? Von sich selbst sagt sie, dass sie eine Pferdenatur habe. "Ich hau auf Holz, dass das noch lange so bleibt." Seit 2006 ist Carolin Widmann auch Professorin für Violine an der Musikhochschule Leipzig. Ihren Studenten bringt sie bei, nicht pauschal zu denken und nicht pauschal zu musizieren. "Früher hat man über jede Geigenstimme eine Vibrato-Soße gekippt, bevor man die Musik erst geschmeckt hat." Das wolle sie ändern. Tatsächlich muss man hören, wie Widmann artikuliert, wie sie ein Vibrato zur Sensation machen kann, es aber auch zu völliger Ausdruckslosigkeit zurücknehmen kann.

In gewisser Weise sind die Momente jener Schubert-Platte, an denen man die Geige fast nicht wahrnimmt, besonders eindrucksvoll: weil da zwei Musiker begriffen haben, dass das Klavier in diesem Augenblick die Hauptstimme innehat. Doch wenn Widmann dann aus dem Nichts nach vorn schießt, ist die Verblüffung umso größer. "Wir haben bei der Aufnahme auf größte Natürlichkeit geachtet. Geiger, die bei dieser Musik nicht nach hinten treten können, sondern den Regler am Mischpult hochziehen, sind mir verdächtig."

Man muss nicht betonen, dass Carolin Widmann eine hinreißend virtuose Geigerin ist. Lagenspiel, Arpeggien, Doppelgriffe – alles meisterlich. Nur hört man die Mühe nicht. Widmanns Spiel stellt Schwierigkeiten nicht in die Vitrine, aber sie schwitzt Brillanz auch nicht aus. Sie gehört dazu, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, so abgebrüht und gut Bach und Sciarrino zu spielen.

In diesem Sommer wird sie die Leitung der prominenten Musiktage in Hitzacker übernehmen. Natürlich wieder viel Neue Musik darin. Aber nicht nur Moderne. Neue Musik ist für Carolin Widmann eigentlich alles. Sogar Mozart – wenn sie ihn nur lange genug nicht gespielt hat und es ihr gelingt, ihn mit ein paar Strichen hoch ans Firmament zu geigen.

Vielleicht ist Carolin Widmann ein bisschen extrem in ihrer Leidenschaft. Aber sie kann nicht anders. Wenn man sie nach ihrem Geigervorbild fragt, ist man kaum verwundert: Es ist der große, alte Fritz Kreisler.

(RP)
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