Selenskyjs Reden jetzt auch als Buch Der Präsident spricht

Kiew · Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist ein großer Redner, der meist mit Videobotschaften seine Zuhörer erreicht. Jetzt sind 16 bedenkenswerte Reden als Buch erschienen.

Wie man ihn kennt: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält am Bildschrim eine Rede, wie hier auf der vergangenen Frankfurter Buchmesse.

Wie man ihn kennt: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält am Bildschrim eine Rede, wie hier auf der vergangenen Frankfurter Buchmesse.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Möglicherweise erkennt man ja gute Reden daran, dass sie kein Verfallsdatum kennen. Dass sie selbst dann noch spannend bleiben, wenn der Redner längst verstummt ist und mit seinem Auftritt eigentlich alles gesagt zu sein scheint. Wer die Augen schließt, mag an Redner wie Winston Churchill oder auch John F. Kennedy denken. Wer die Augen öffnet, sieht wahrscheinlich Wolodymyr Selenskyi vor sich, den Präsidenten der Ukraine. In seinem tarngrünen T-Shirt, von denen er dutzende im Kleiderschrank haben muss. Und meist auf einem Bildschirm, von dem aus er kriegsbedingt an die Menschen seines Landes und aller Welt seine Worte richtet.

Von der Bedeutung seiner Reden ist offenbar Selenskyi auch selbst überzeugt: 16 wählte er jetzt aus für ein Buch mit dem zwar kargen, aber doch deutungsfähigen Titel „Botschaft aus der Ukraine“. 16 Reden sind nicht gerade wenig, doch für den 44-Jährigen war es eher eine Qual der Wahl. In den ersten 200 Kriegstagen hielt er 81 Ansprachen allein vor ausländischem Publikum. Das gesprochene Wort wurde zum Instrument seiner Außenpolitik. Auch in diesem Sinne kommt die „Botschaft“ im Buchtitel zu ihrem Recht.

Erster Eindruck: Es sind noch immer packende, spannungsvolle Reden. Zweiter Eindruck: Einzelne Sätze bleiben hängen, die von einer moralischen Klarheit künden. In unserer komplexen Welt, in der so Vieles so differenziert betrachtet wird und betrachtet werden muss, gibt es plötzlich eindeutige Positionen, kein Abwägen und Taktieren, sondern ein verbales Agieren. Und das schon mit seiner ersten, sehr kurzen, aber suggestiven  Ansprache ans ukrainische Volk - wenige Stunden nach dem Überfall der russischen Armee am 24. Februar 2022. Morgens um 6 Uhr waren diese Worte von ihm zu hören: „Heute müssen Sie alle ruhig bleiben. Wenn Sie können, bleiben Sie bitte zu Hause. Wir alle setzen uns aktiv dafür ein, das Land zu schützen. Die Armee setzt sich ein. Der gesamte Sicherheits- und Verteidigungssektor setzt sich ein. Ich werde permanent mit Ihnen in Verbindung stehen.“

Genau das war es, was Selenskyi, der Politik-Amateur und Fernsehprofi, ganz früh erkannt hatte: Er musste präsent sein und bleiben und in unsicherer Lage gesicherte Informationen geben. Permanent, einfach, uneitel. Er durfte sich nicht zum Sprachrohr seines Volkes machen und durfte sich nicht als Welterklärer aufspielen. Er sollte nicht zum Volk sprechen, sondern mit dem Volk und am besten in der Sprache des Volkes. Alle gehörten jetzt zusammen, und der Präsident schien mitten unter ihnen zu sein. Ein bisschen Pathos gehörte dann auch dazu: „Geraten Sie nicht in Panik. Wir sind stark. Wir sind zu allem bereit. Wir werden jeden bezwingen. Weil wir die Ukraine sind. Ruhm der Ukraine.“ Da war es kurz nach sechs Uhr. Da hatte der russische Angriffskrieg wenige Stunden zuvor begonnen.

Seine Reden ans ukrainische Volk sind direkt, mit kurzen Sätzen und schnell auf den Punkt kommend. Anders seine Ansprachen ans Ausland – die in diesem Sinne wirklich zu Botschaften aus der Ukraine werden. Rhetorisch geschult trat er schon vor dem Überfall vor der UN-Vollversammlung im September 2019 auf. Er outete sich damals bescheiden als Anfänger auf dem Parkett der Weltpolitik, und doch war er professioneller als die meisten im Saal. Natürlich erinnerte er an den bestenfalls am Rande wahrgenommenen Krieg im Donbass, der zu dieser Zeit schon fünf Jahre währte. Kein Vergleich war Selenskyi zu klein, um auf die Gefahren eines Wegsehens hinzuweisen, das nach seinen Worten die Grundlage für zwei Weltkriege schuf. „Vertrauen Sie nicht darauf, der Krieg sei weit entfernt“, sagte er damals. Heute würde man den Satz eine Prophetie nennen. Schließlich las Selenskyi den Staatschefs aus einem Buch vor - dem Vorwort von Erich Maria Remarques Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“.

Das ist der Schlüssel seiner wirkmächtigen Rede: auf historische Vergleiche zurückzugreifen, diese mit Literatur zu unterfüttern und so ein finsteres Szenario zu entwickeln, dem sich die Zuhörer nur schwer entziehen können. Vor dem britischen Parlament stellt er den Abgeordneten Anfang März in einer Videobotschaft die Frage: „Sein oder Nichtsein.“ Zwei Wochen später wird er im US-Kongress zugeschaltet und ruft den Politikern die Erinnerung an die Terroranschläge vom 11. September 2001 wach. Martin Luther Kings eindringlichen Satz „I have a dream“ wird bei ihm zu „I have a need“, ich brauche Unterstützung. Vor der israelischen Knesset zitiert er Golda Meir: „Wir wollen am Leben bleiben. Unsere Nachbarn wollen unseren Tod. Das ist keine Frage, die Spielraum für Kompromisse hinterlässt.“ Golda Meir war von 1969 bis 1974 Ministerpräsident Israels, vor allem aber: Sie wurde in Kiew geboren. Schließlich der Deutsche Bundestag, den Selenskyi gleichfalls im März an die Berliner Luftbrücke erinnerte und die aktuelle Lage mit einer großen Mauer zwischen Krieg und Frieden beschrieb, die sich durch Europa ziehe. Große Worte auch diesmal: „Herr Bundeskanzler Scholz! Reißen Sie diese Mauer nieder!“

Die Botschaft all dieser historischen Analogien ist: Geschichte kann sich wiederholen. Sie muss es aber nicht. Es liegt an uns. In diesem Augenblick. Kaum einer der Vergleiche wird der Vergangenheit gerecht. Doch jeder hinterlässt seine Wirkung; wie auch die Frage, ob Selenskyi, der einstige TV-Produzent und Comedian, nicht nur das Zeug zum imposanten Redner hat, sondern auch zum Demagogen. Auch diese Frage muss sich die Zuhörerschaft seiner Reden und die Leserschaft eines vom Autor so ungeliebten Buches stellen: „Ich wäre der glücklichste Mensch der Welt, wäre das Buch, das Sie in Händen halten, nie veröffentlicht worden“, schreibt er in der Einleitung.

Worte des Präsidenten, die gleichfalls auf Verbrüderung zielen.

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