Leipzig Wertarbeiter: Kurt Masur wird 85

Leipzig · Viele Musikfreunde haben voller Freude vernommen, dass der im April in Paris gestürzte Dirigent Kurt Masur wieder auf dem Weg der Genesung ist. Am Sonntag will er wieder beim US-amerikanischen Tanglewood-Festival auftreten. Heute feiert er aber erst einmal seinen 85. Geburtstag

Wenn ein 84-jähriger Mann nach einem Sturz, dem Bruch eines Schulterblatts und einer langwierigen Genesung voller Optimismus in die Zukunft schaut und sagt: "Ich werde langsam wieder gesund!" – dann dürfen wir bei solchen positiven Signalen aufatmen und uns wieder auf einiges Schöne gefasst machen. Kurt Masur ist einer, der sich nicht unterkriegen lässt; einer, den wenig erschüttert; er, der seinen Schädel schier durch die Wände rammt. Er hat in seinem Leben so viel erlebt, dass jene popelige Skapula-Fraktur einen Hünen wie ihn nur kurzzeitig umhaut. Denn Masur will natürlich zurück an den Ort, an dem er damals, am 26. April bei einem Konzert im Théâtre des Champs-Élysées in Paris, stürzte: aufs Dirigentenpodium. Heute wird er 85 Jahre alt, doch im Club der großen Lenker ist er nicht einmal der Betagteste. Gielen, Prêtre, Skrowaczewski, Boulez, Marriner – gegen diese Älteren ist Masur ein Hüpfer.

Jenen Kollegen hat der am 18. Juli 1927 im niederschlesischen Brieg geborene Musiker allerdings eine geradezu olympische Fülle von Medaillen, Plaketten, Wimpeln, Orden, Preisen, Doktorhüten und Ehrungen voraus, zu denen auch der Wirtschafts- und Kommunikationspreis "Heiße Kartoffel" des Mitteldeutschen Presseclubs (2005) oder die Canator-Medaille der Düsseldorfer Gesellschaft für Rechtsgeschichte (1995) zu zählen sind. Masur ist halt nicht nur ein Dirigent von erheblicher Streuwirkung, er hat auch in einem großartigen Wimpernschlag der Weltgeschichte seine Stimme erhoben: bei der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, wo auch ihm die Formel "Keine Gewalt!" über die Lippen kam.

Masur war damals Kapellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, einer weltweit angesehenen und vielgereisten Formation. Mancher hatte sich zwar gewünscht, Masur hätte schon früher zum Mikrofon gegriffen, nicht erst in einem Moment, wo niemand mehr berufliche oder persönliche Nachteile befürchten musste. Sei's drum, Masur wurde alsbald, gewiss auch mangels anderer Prominenter, zum Synonym der friedlichen Revolution in der DDR.

Seitdem ist der Musiker Masur, obzwar stets und gern mit der Maestro-Vokabel bekränzt, fast ein wenig in den Hintergrund getreten. Vor das Pult schob sich gleichsam die öffentliche Erinnerung an jene politische Momentäußerung. Masur hat darunter in stillen Stunden nicht wenig gelitten; gern wäre er für seine Brahms-, Bruckner-, Tschaikowski- oder Beethoven-Aufnahmen gepriesen oder gar in den Himmel gehoben worden. Aber das Echo der internationalen Musikkritiker blieb verhalten. Einen Grammy bekam er einzig als dirigentischer Assistent: bei Violinkonzerten mit Anne-Sophie Mutter.

Solche Zurückhaltung hatte und hat Gründe. Masur ist ein exzellenter Koordinator, ein groß gewachsener Wagenlenker mit geradezu bezwingend-heroischer Wirkung, zugleich erfrischend spontan und dem Augenblick zugewandt; er bringt Strukturen zum Vorschein und erfüllt sie mit Leben. Ja, bei Masur geht nie etwas schief. Es klingt gründlich und lebendig. Solche Eigenschaften schätzt man weltweit: In New York begrüßte man ihn als Chef der Philharmoniker (1991 bis 2002) mit den Worten, jetzt komme das ganz alte Europa über den Teich. In London fühlte man sich geehrt, dass der betagte Künstler mit dem Philharmonic Orchestra (2000 bis 2007) noch einmal spätjugendlich Kurs auf die Musik aufnahm. Von 2002 bis 2008 oblag ihm auch die Leitung des Orchestre National de France, was die musikpolitisch kuriose Situation eintreten ließ, dass er zeitgleich Chef in London und Paris war.

Andererseits lässt sich nicht verleugnen, dass sich anspruchsvolle Geister in Masurs Konzerten zuweilen spirituell unterversorgt fühlen. Dann gelangt das Musizieren an jene Grenze, die das Akkurate und Wertvolle vom Genialischen und Ereignishaften trennt – doch übertritt es, überfliegt es sie nicht. Masur kann Musik nur schlecht laufen und strömen lassen, er beobachtet sie gern und wird dann ihrer inwendigen Dynamik nicht immer gewahr. In solchen Momenten erklimmt Masur etwa 90 Prozent eines Werks – und jeder mag für sich bemessen, ob er das als beträchtlichen Erfolg oder als Scheitern auf hohem Niveau wertet.

Keiner wird jedoch bezweifeln, dass der gelernte Elektriker und nur halb studierte, gar nicht examinierte Musiker Masur es weit gebracht hat. Am besten ist er, wenn Musik sich im Entstehen selbst erfüllt und nicht mehr schöpferisch gestaltet werden muss. Das ist etwa bei Schostakowitschs 13. Sinfonie der Fall. Es ist die einzige Aufnahme, mit der Masur je auf die rigorose Vierteljahresliste der Deutschen Schallplattenkritik gekommen ist.

(RP)
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