Was die Philosophie zur neuen Politik sagt Wer versteht die Generation Pirat?

Düsseldorf · Das Rheingold-Institut attestiert den Piraten eine Robin-Hood-Mentalität. Nach dem Vordenker der Bewegung, Hakim Bey, geht es um einen anarchistischen Aufstand gegen jede Form der Kontrolle.

 Die Piraten mischen Politik und Gesellschaft auf. Aus philosophischer Sicht sind sie Repräsentanten einer neuen Welt.

Die Piraten mischen Politik und Gesellschaft auf. Aus philosophischer Sicht sind sie Repräsentanten einer neuen Welt.

Foto: dpa, Bernd Thissen

Was aber, wenn die meisten, die über die Piraten derzeit befinden, einfach zu alt sind? Wenn also ihre Kriterien, mit denen sie die neue politische Bewegung beurteilen, einer früheren gesellschaftlichen Wirklichkeit entspringen und darum mit jener des Jahres 2012 nur noch wenig zu tun haben? Dann würde jede Auseinandersetzung das Dokument eines fehlenden Verständnisses sein.

Unlängst hat der französische Philosoph Michel Serres in Köln den mit 50.000 Euro dotierten Meister-Eckhart-Preis entgegengenommen. Serres ist 80 Jahre alt, was den französischen Philosophen nicht daran hinderte, die Präsidentschaftskandidaten seines Landes (beide 57 Jahre) als "alte Opas" zu diskreditieren. Denn diese sind für Serres "Kandidaten einer alten Welt", vergleichbar mit Vertretern des Ancien Régime kurz vor dessen Untergang. Die Vertreter der neuen Welt nennt Serres nur wenig schmeichelhafter "Däumlinge", also jene, die allein mit dem Daumen ihre Mobiltelefone betätigen und damit eine kleine Welt in Bewegung bringen können. Eine neue Ära sei das, sagt der Franzose.

Eine Projektion alter Werte auf ein neues Phänomen

Serres hat aber auch unsere Ängste gegenüber den Däumlingen beobachtet — ob diese nun Piraten heißen oder nicht. Danach entspringen unsere Vorbehalte gleichsam einer alten Welt. "Man hat dann Angst, wenn man die neuen Phänomene mit den Kriterien der alten Welt beurteilt", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Wir übertragen unser Recht aufs Internet, weil wir nur dieses Recht haben.

Weil unser eigenes Wertebewusstsein plötzlich auf dem Spiel steht, halten wir an dem fest, was wir am besten können, indem wir unser eingeübtes Urteilen mit gesteigerter Vehemenz auf das Neue anwenden. So hat sich das Rheingold-Institut für Medienanalyse die Piraten in seiner neuen Studie tiefenpsychologisch vorgeknöpft und dabei nicht nur eine Robin-Hood-Mentalität ausfindig gemacht.

Die Fahne richtet sich nach dem Wind

Sie seien in ihrer neuartigen Herangehensweise unkonventionell, wirkten authentisch und könnten ihre wachsende Wählerschaft schon deshalb kaum enttäuschen, weil man ihnen auch noch ihre Unwissenheit zubillige. Den Piraten attestiert man im positiven Sinne politische Unschuld, zudem wird eine gewisse Gesichtslosigkeit gutgeheißen. Diese Charaktereigenschaft mag erstaunen, sie korrespondiert indes mit der Anonymität des Internets. Die Namen- und Gesichtslosen aber sind eine Macht geworden.

Dass diese schwer zu benennen und zu greifen ist — sieht man von wenigen Forderungen ab —, das könnte ihre Stärke sein. Als Sinnbild dafür mag das Emblem der hierzulande rund 25.000 Mitglieder zählenden Piratenpartei dienlich sein. Ein Segel bloß, das aber, so will es seine Eigenart, immer nur dann für Schub sorgen kann, wenn es sich nach dem Wind ausrichtet. Also wieder der Vorwurf, die Piraten seien nicht professionell, scheuten Standpunkte, sie hätten keine Themen und kein Wissen? Die Partei versucht, solchen Vorwürfen mit vielen programmatischen Seiten zu begegnen. Wer sie liest, ist selten klüger als zuvor.

Hakim Bey - Vordenker

Dahinter steckt ein Prinzip — das der "liquid democracy", einer Form der Entscheidungsfindung, die durch ständige Rückmeldungen aller Beteiligten im Fluss sein soll und somit nie an ein Ende führen kann. Alles verbleibt im Zustand des Flexiblen: der Mensch, die Wirtschaft, das Leben.

Ihren Weltzugang aber haben sich die Piraten nicht einfach aus dem Internet heruntergeladen. Es gibt Geistesströmungen dieser Anti-Kultur. Als einen ihrer Vordenker muss man den 1945 in New York geborenen Hakim Bey (alias Peter Lamborn Wilson) nennen, der mit seinem vor über 20 Jahren erschienenen Buch "TAZ — Temporäre Autonome Zone" das Grundkonzept einer Piraten-Utopie entworfen hat. Darin geht es zunächst um Minigesellschaften, um Verstecke und versprengte Inseln im Informationsnetzwerk, um anarchistische befreite Zonen.

Aufstand durch Verweigern

Wenn die TAZ lebendig wird, gilt es, der Gewalt des Staates auszuweichen. An keine Revolution denkt Hakim Bey, da solche nie zum Erfolg geführt hätten. Er hängt der Vision des Aufstandes nach, bei der man sich "spektakulärer Gewalt verweigert". "Die Attacke gilt den Strukturen der Kontrolle, im Wesentlichen den Ideologien", so Hakim Bey. Deshalb sei die TAZ eine perfekte Taktik in einer Zeit, "da der Staat omnipräsent und allmächtig ist und dennoch zugleich Risse und Leerstellen zeigt".

Solche Szenarien sind keine Spielerei mehr. Sie sind eine tätig gewordene anarchistische Utopie, die — wie alle anderen anarchistischen Modelle auch — voller Widersprüche steckt. So wird bei den Piraten zwar das Hohelied der Transparenz gerade durch die Möglichkeiten des Internet angestimmt; nur zeichnen sich die großen Internetkonzerne wie Google, Facebook und Amazon durch größte Zurückhaltung aus, wenn es darum geht, transparent zu machen, was mit den riesigen Datenmengen ihrer Nutzer so alles angestellt wird. Zudem hat jüngst Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des "Philosophie"-Magazins, darauf hingewiesen, dass die Forderung nach totaler Transparenz zunächst von "der Logik des Verdachts geleitet" wird.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist so viel kommuniziert worden wie im 21. Jahrhundert. Doch eine Verständigung zwischen neuer und alter Welt erscheint unmöglich. Die Risse unserer Gegenwart sind die gesellschaftlichen Risse zwischen den Generationen und deren Anschauungen von der Welt. Für den 82-jährigen Michel Serres geht es dabei nicht um eine Frage der Werte, sondern um eine Frage der Zeit: "Die gegenwärtige Gesellschaft ist den überholten Institutionen in eigentlich allem voraus. Es ist schon verblüffend, wie sehr."

(RP/pst/csi)
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