Wer in Cannes gewinnen könnte

Cannes An seiner "Liebe" wird niemand vorbeikommen. Wenn Jean-Louis Trintignant seine vom Hirnschlag halbseitig gelähmte Frau bis in den Tod begleitet, dann wird die ganze Dimension des Wortes spürbar. Michael Haneke hat in seinem aus klaren Bildern komponierten Kammerspiel an das Wesentliche erinnert und kann alle Ansprüche auf seine zweite Goldene Palme anmelden. Da er Cannes schon vor drei Jahren mit seinem historischen Fresko "Das weiße Band" gewann, wird der strenge Jury-Präsident Nanni Moretti aber die Karten neu verteilen. Voraussichtlich wird Haneke mit einem anderen Preis gewürdigt, etwa für die beste Regie oder für die beste Darstellung Jean-Louis Trintignants.

Auch für den Rumänen Cristian Mungiu müsste mit seinem quälenden Exorzimus-Epos "Beyond the hills" die Palme in Reichweite kommen, aber er hatte sie schon vor fünf Jahren für "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" gewonnen. Das ist bezeichnend für einen Wettbewerb, den ältere Herren unter sich ausgemacht haben. Zur gelungenen Mischung fehlten nicht nur Regisseurinnen, sondern auch junge Talente und verstörende Avantgarde. Der Mexikaner Carlos Reygadas brachte nicht den nötige Schub der Erneuerung, und der sonst so experimentierfreudige Abbas Kiarostami lieferte mit "Like someone in Love" bloß eine leichte "japanische" Komödie ab. Preisverdächtig unter den Franzosen sind Jacques Audiard für sein Melodram "Rust and Bone" und die darin verstümmelte Marion Cotillard als beste Darstellerin des Festivals, aber auch Altmeister Alain Resnais, der sein amüsantes Film-Testament hoffnungsvoll "Vous n'avez encore rien vu" nannte.

Die mit Stars gespickten Filme wie "Killing Them Softly" von Andrew Dominik mit Brad Pitt als Auftragskiller, "Lawless" von John Hilcoat mit Shia La Boeuf oder "The Paperboy" von Lee Daniels mit Nicole Kidman enttäuschten. Selbst der große David Cronenberg verfilmte Don DeLilos "Cosmopolis" nicht als pralle Kapitalismus-Attacke, sondern als Plauderstunde in der Stretch-Limousine.

So ragten auch am vorletzten Festivaltag noch immer die Filme von Michael Haneke, Cristian Mungiu und dem gewitzten Moralapostel Thomas Vinterberg aus dem gediegenen Mittelfeld des Wettbewerbs heraus. Am schönsten wäre, wenn die Jury den poetischsten, verrücktesten Film des Festivals in den Palmenhimmel hievte: "Holy Motors" von Leos Carax. Der beschwört energievoll die Macht der Fantasie – das sollte eine Auszeichnung wert sein.

(RP)
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