Michael J. Sandel "Wer glaubt, immer gerecht zu sein, irrt"

Der US-Amerikaner gilt als einer der populärsten Philosophen der Welt. Jetzt ist sein neues Buch "Gerechtigkeit" erschienen.

Berlin Er ist derzeit gefragt wie kein anderer: Harvard-Professor Michael J. Sandel (60). Der Andrang zu seinen Vorlesungen ist so groß, dass die Studenten im 1200 Plätze fassenden Saal Lose ziehen müssen. Seine Vorlesungen über Gerechtigkeit, die Sandel komplett ins Internet stellte, wurden weltweit millionenfach heruntergeladen; sie werden im amerikanischen Fernsehen gezeigt, und die BBC machte einen Film aus seinen Vorträgen zur Gerechtigkeit. Sandel soll das Vorbild gewesen sein für Mr. Burns, den Griesgram aus der legendären TV-Serie "Simpsons"; mehrere Drehbuchautoren sind Harvard-Absolventen.

Waren Sie heute schon ungerecht?

Sandel Ich glaube nicht; das heißt: ich hoffe es nicht.

Warum ist für uns Gerechtigkeit so erstrebenswert? Sie ist doch kein gegebenes Verhaltensmuster aus der Natur?

Sandel Und genau aus diesem Grund haben sich die Philosophen über Jahrhunderte hinweg immer wieder Gedanken gemacht, was Gerechtigkeit ist. Wir ringen um das richtige Verständnis von Gerechtigkeit, um eins zu klären: Wie leben wir am besten zusammen? Das ist der entscheidende Ausgangspunkt all unserer Fragen.

Aber warum müssen wir die Frage – von Aristoteles bis Kant und Rawls – immer wieder neu stellen. Warum gibt es keine gültige Antwort?

Sandel Das ist eine wirklich gute Frage. Die Art, wie wir Gerechtigkeit bestimmen, hängt von Umständen ab. Und weil es darum geht, wie wir unser Zusammenleben einrichten, muss bedacht werden, dass sich auch unser Zusammenleben in verschiedenen Kulturen und verschiedenen Zeiten ändert. Das bedeutet aber nicht, dass Gerechtigkeit von anderen Dingen abhängt. Moralische Gerechtigkeit kann nicht relativiert werden.

Ist das 21. Jahrhundert ein gutes Zeitalter, um über Gerechtigkeit nachzudenken?

Sandel Das frühe 21. Jahrhundert hat die Frage nach der Gerechtigkeit auf drängende Weise auf die Tagesordnung gebracht. Weil die Ungleichheit in fast allen Gesellschaften zugenommen hat; die Kluft zwischen Arm und Reich stellt die Frage nach Gerechtigkeit heute weit stärker als in früheren Zeiten.

Ein konkreter Fall: Kann es gerecht sein, Nordkorea anzugreifen, um Schlimmeres zu vermeiden? Ist ein Tyrannenmord gerecht?

Sandel Wenn es möglich wäre, nur die atomaren Abschussrampen der Nordkoreaner zu zerstören, ohne Zivilisten zu töten, dann gäbe es gute Argumente für einen Angriff. Aber da jede Attacke wahrscheinlich auch viele Menschen treffen würde, ist die Entscheidungslage viel schwieriger. Die bessere Politik würde versuchen, auf China einzuwirken, um auf diesem Weg Einfluss zu nehmen. Das wäre ein Lösung, die nicht auf Prinzipien pocht, sondern pragmatisch ist.

Noch konkreter: Ist es gerecht, dass wir jetzt sehr komfortabel in einer Suite des Berliner Adlon-Hotels sitzen und über Gerechtigkeit sprechen, während vielleicht ein paar hundert Meter von hier ein Bettler am Alexander Platz auf dem nackten Boden sitzt?

Sandel Dabei drängt sich die Frage auf, ob die Menschen im Wohlstand und Überfluss – wie wir in diesem Augenblick – die Privilegien als etwas ansehen, was ihnen zusteht. Ich glaube nicht; diese Anspruchshaltung ist falsch. Wir müssen stattdessen immer fragen, ob wir diese glücklichen Umstände, diese Privilegien, wie wir sie auch hier im Adlon genießen, dazu nutzen, sie für das Gemeinwohl einzusetzen. Das ist meiner Meinung nach die einzige Rechtfertigung unserer Privilegien: Indem wir uns eingestehen, dass wir das alles zwar nicht verdienen, aber dass wir es verwenden werden zugunsten jener Menschen, die nicht so gut dran sind wie wir.

Helfen uns solche Gewissenskonflikte, das Dilemma mit der Gerechtigkeit besser zu begreifen?

Sandel Viele meinen ja, Philosophie sei eine ziemlich einsame Angelegenheit, bei der große Philosophen auf große Gedanken kommen und diese dann der Menschheit übergeben. Für mich ist Philosophie stärker eine Art Dialog, eine Debatte, die sich mit dem Alltag der Menschen auseinandersetzen soll. Ich nutze meine Fragen und Fallbeispiele dazu, um allen Menschen Zugang zur Philosophie zu verschaffen.

Ist diese Methode auch eine Art der Aufklärung, dass der Mensch mit seinem Denken mündig werden soll?

Sandel Ich versuche meinen Studenten nahe zu bringen, dass Philosophie in unserem Leben ein Rolle spielt – Tag für Tag: in jeder Handlung, jeder Meinung. Wir praktizieren alle Philosophie, bevor wir überhaupt ein philosophisches Buch aufgeschlagen haben.

Wer entscheidet aber am Ende, ob wir gerecht gehandelt haben? Bin nur ich es, ist es die Gesellschaft oder wird es eine übergeordnete Instanz wie Gott sein?

Sandel Jeder von uns ist verantwortlich dafür, so gut es geht, sich ein Urteil zu bilden, was man im eigenen Leben macht. Das heißt aber nicht, dass Gerechtigkeit beliebig und im Ermessen des Einzelnen steht. In demokratischen Gesellschaften entscheiden Mehrheiten darüber, was Recht und Gesetz sind. Sie streben danach, Gerechtigkeit einzurichten. Aber auch Mehrheiten können sich irren und ungerecht handeln.

Sie fordern am Ende verstärktes staatsbürgerliches Engagement und nennen es Dienst und Opfer. Die Kirche spielt dabei für Sie aber keine Rolle.

Sandel Viele Philosophen sind der Meinung, dass man sinnvoll über Ethik sprechen kann, ohne sich auf Religion zu stützen. Für mich ist das eine offene Frage. Aber ich glaube, dass wir religiöse Ansichten in öffentlichen Debatten viel stärker berücksichtigen sollten, als wir es üblicherweise tun.

Welche Antwort trifft zu: Wer stets gerecht handeln will – ist erstens ein Romantiker, auf Dauer Verlierer, drittens ein kluger Kopf oder – viertens – diesen Menschen gibt es noch nicht.

Sandel Wer immer gerecht handeln will, ist zweifelsohne ein rechtschaffener Mensch. Wer aber glaubt, immer auch wirklich gerecht zu sein, fällt der Überheblichkeit, der Hybris zum Opfer. Er spielt gegen alle Wahrscheinlichkeit.

(RP)
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