Weihnachtsgeschichte der Rheinischen Post Der Nothelfer aus Kervenbroich

Güldern · Wie einer Pfarrgemeinde am Niederrhein kurz vor Weihnachten der Weihrauch ausging. Eine Weihnachtsgeschichte von Wolfram Goertz.

Weihnachtsgeschichte der Rheinischen Post: Der Nothelfer aus Kervenbroich
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Josef Ingenpahs guckte in die Röhre. Der Küster von St. Ludgerus in Güldern stand im Keller der Pfarrkirche und kramte in allen Schränken. Doch fand er nicht, wonach er suchte, und das machte ihn stutzig. „Wo habe ich ihn Fronleichnam bloß hingestellt?“

Ihn interessierte der Karton mit Weihrauch, den er für die Weihnachtsgottesdienste benötigen würde. Auf einmal kam ihm die Erleuchtung: Er selbst konnte ihn gar nicht verkramt haben, denn er hatte über Fronleichnam mit Bronchitis im Bett gelegen. Der Küster aus Sinsbeck, Herr Billering, hatte ihn damals vertreten, allerdings sehr unwillig.

Da schob Ingenpahs in einem Regal zwei Säcke mit Hostien (Modell „Felix Lingua“) zur Seite und fand, wonach er gesucht hatte – einen Karton mit dem Aufdruck „Weihrauch ,Laudate‘, aus dem Oman. 5 kg.“ Der Karton war leer. Billering hatte offenbar die Reste zu Fronleichnam gen Himmel verduften lassen, ohne jemandem zu sagen, dass neuer Weihrauch bestellt werden müsse.

Nun stand Ingenpahs da wie ein begossener Pudel, es war Freitag vor Heiligabend, in drei Tagen würde ihn Pfarrer Underberg fragen, ob alles für das Hochamt vorbereitet sei. Die Kirche würde aus allen Nähten platzen, auch weil Underberg für seine Predigten berühmt war. Der Mann galt als Mischung aus Theo Lingen und Joseph Ratzinger. Doch wenn am Altar etwas nicht klappte, konnte er fuchsig werden. „Der liebe Gott vergibt alles, nur keine Huddelei in der Sakristei“, hatte er mal sonntags vor dem Hochamt gedonnert, als sich die Messdiener lautstark über die Bundesliga-Ergebnisse vom Samstag ereiferten.

Es war Freitag, 15.52 Uhr. Wo sollte Ingenpahs jetzt Weihrauch herbekommen? Den Kollegen aus Sinsbeck würde er keinesfalls anrufen, der würde sich ins Fäustchen lachen. Vielleicht hatte ja die Schleidener Firma Berndorf, Fachhandel für Kirchenbedarf, die St. Ludgerus seit Ewigkeiten belieferte, noch geöffnet. Womöglich ging Frau Eberle, die gute Seele des Betriebs, selbst ans Telefon.

Ingenpahs suchte im Internet nach der Nummer, staunte wieder über das Angebot bei Berndorf (sogar Prozessionslautsprecher gab es) und rief an. Und tatsächlich, Frau Eberle saß noch im Büro. Beide kannten einander seit Jahren, leider nur vom Telefon, wie Herr Ingenpahs stets dachte. Er hätte gern mal gefragt, woher ihr lustiger Dialekt stammt.

„Was bin ich froh, dass ich Sie an der Strippe habe“, sagte er. „Machen Sie nicht bald Feierabend und freuen sich auf Weihnachten?“

„Ach, Herr Ingenpahs, viel gibt es da nicht zu freuen. Außerdem muss ich in zwei Stunden die Revision fertig haben“, erzählte sie.

Ingenpahs schilderte ihr die Lage. Frau Eberle, eine Schwäbin in der Eifel, ahnte seine Not: „Und jetzt brauchen Sie ganz schnell Weihrauch?“

„Ja“, sagte der Küster. „Sonst zieht mir Pfarrer Underberg die Hammelbeine lang.“

„Hammelbeine gibt es nur zu Ostern“, scherzte Frau Eberle. Dann wurde sie pragmatisch: „Per Post klappt das nicht, ich bekomme das Paket ja nicht mehr weg.“

Plötzlich schien sie eine Idee zu haben, ihre Stimme wurde verschwörerisch. „Herr Ingenpahs, ich kriege jetzt ein Problem mit dem Datenschutz, doch kennen wir uns schon so lange, also egal. Wir bekommen regelmäßig überraschend große Weihrauch-Bestellungen von einem Privatmann.“ Sie machte eine verheißungsvolle Pause. „Aber so ganz privat ist der nun auch nicht. Das ist nämlich der evangelische Pastor Bohnen aus Kervenbroich. Das müsste bei Ihnen in der Nähe sein. Der ist längst im Ruhestand. Trotzdem bucht er mehrmals jährlich die Sorte ,Jakobus‘. Vielleicht feiert er ausschweifende schwarze Messen.“

Wieder kicherte Frau Eberle, und Ingenpahs musste sich eingestehen, dass er dieses Kichern über die Jahre liebgewonnen hatte. Wie Frau Eberle nur aussah?

„Ich gebe Ihnen jetzt Bohnens Telefonnummer“, beschloss sie, „das ist ja ein ökumenischer Notfall.“

Ingenpahs bedankte sich herzlich. Zum Abschied sagte er: „Ich rufe Sie gleich noch an, liebe Frau Eberle, ob es geklappt hat!“

Allerdings war ihm mulmig zumute. Konnte er Pastor Bohnen einfach anrufen? Er kam nicht dazu, die Frage zu beantworten, denn es klopfte an seinem Küchenfenster. Draußen stand Pfarrer Underberg. „Herr Ingenpahs, wo bleiben Sie denn? Wir haben doch Generalprobe für die Festmesse mit allen Ministranten. Ich hoffe, der Weihrauch dampft schon!“

Ingenpahs wurde schwarz vor Augen. Jetzt gab es keine Ausflüchte mehr, er musste beichten. Über die Konsequenzen mochte er gar nicht nachdenken.

Der Pfarrer machte ein undurchdringliches Gesicht, als Ingenpahs ihm die Situation schilderte. Dann sagte Underberg mit einem Schmunzeln: „Geben Sie mir mal die Nummer, ich rufe Pastor Bohnen an.“

Außerdem sprach Underberg aus, was beide dachten: „Mich würde auch interessieren, wieso ein Evangele Weihrauch bunkert.“

Underberg war bekannt dafür, dass er in Krisensituationen selbst Hand anlegte. Vor zwei Jahren hatte sich am Tag vor Pfingsten im Kirchturm ein Glockenklöppel verkantet, es läutete nicht mehr, und die Glockenfirma in Emmerich hatte Betriebsferien. Da war Underberg mit einem Werkzeugkasten und einer Leiter in den Glockenturm geklettert und hatte unter Lebensgefahr den Klöppel selbst repariert. Dabei hatte die Glocke dermaßen seltsame Geräusche von sich gegeben, dass ganz Güldern in Aufregung war. Metzger Kanders, Mitglied des Kirchenvorstands, hatte sogar die Polizei alarmiert. Aber die fand im Glockenturm nur einen ölverschmierten Pfarrer im Blaumann.

Was das Telefonat betraf, hatte sich Underberg, der die Generalprobe mit den Messdienern ohne Gerüche absolvieren musste, für eine emotionale Strategie entschieden. „Lieber Herr Kollege“, begann er, „dieser Anruf ist ein Amtshilfeersuchen. Wir befinden uns in höchster liturgischer Not.“ Dann berichtete er. Für die Versündigung am Datenschutz bat er um Vergebung, es sei ja Gefahr im Verzug gewesen.

Bohnen begriff sofort. „Und ich soll aushelfen?“

„Ja, das wäre wunderbar. Sonst müssten wir Weihnachten ausfallen lassen. Könnten wir den Weihrauch bei Ihnen abholen?“

„Och nee, lassen Sie mal, ich fahre morgen zu meiner Schwester nach Kleve. Auf dem Weg bringe ich Ihnen genug Weihrauch, dass Sie Weihnachten und Neujahr über die Runden kommen.“

Underberg war platt und bestellte direkt bei der Konditorei Beinemann für den kommenden Tag einen opulenten Baumkuchen. Dann berichtete er seinem Küster von dem Nothelfer aus Kervenbroich. Ingenpahs war erleichtert und rief bei Frau Eberle an, aber es sprang nur der Anrufbeantworter an. Es war schon halb sieben.

Die beiden Amtsbrüder waren sofort ein Herz und eine Seele. Underberg hatte noch drei Jahre bis zum Ruhestand, Bohnen war bereits 70. Aber glücklich über die freie Zeit war er nicht, das spürte Underberg. Irgendwann rückte Bohnen mit der Sprache heraus: „Ich bin ziemlich einsam. Meine Frau ist vor einigen Jahren an Brustkrebs gestorben. Kinder haben wir nicht, und jetzt fahre ich nur ab und zu nach Kleve.“

„Und was machen Sie mit dem ganzen Weihrauch?“, fragte Underberg behutsam.

Bohnen holte etwas aus. „Ich habe den katholischen Gottesdienst wegen seiner Sinnlichkeit immer geliebt. Aber mein Vater war ebenfalls evangelischer Pastor, und der hätte es nicht verkraftet, wenn ich dem Luther von der Fahne gegangen und Katholik geworden wäre.“

„Und warum haben Sie im Gottesdienst auf Weihrauch verzichtet, obwohl Luther das nie verboten hat?“

„Mein Presbyterium war strikt dagegen. So habe ich ihn immer abends daheim entzündet, wenn ich privat mit Gott sprach. Das mache ich heute noch, das hat so etwas Heiliges.“

Da hatte Underberg eine geniale Idee. „Apropos heilig: Was machen Sie eigentlich Heiligabend?“

Bohnen zuckte mit den Schultern. „Da bin ich zuhause, meine Schwester kommt zu mir. Wir legen das ,Weihnachts-Oratorium‘ auf und verhalten uns ruhig. Würstchen, Kartoffelsalat, ein Glas Wein. In die evangelische Kirche bei uns gehe ich nicht. Christmette um Mitternacht? Da schlafe ich schon. Und in der katholischen Kirche singen alle schief – wegen der Orgel, die seit Jahren verstimmt ist.“

Da machte ihm Underberg ein unschlagbares Angebot. „Wollen wir nicht Heiligabend die Festmesse als Pontifikalamt bei uns in St. Ludgerus feiern? Sie machen die größte Weihrauch-Orgie Ihres Lebens, hinterher gehen wir zu mir, Ihre Schwester bringen Sie gern mit, den Kartoffelsalat und die Würstchen natürlich auch. Sie können bei mir übernachten, ich bin ja auch allein und habe viel Platz.“

Bohnen bekam große Augen. „Wie bitte, Konzelebration? Darf ich auch Hostien verteilen?“

„Klar. Und möchten Sie nicht über das Thema Weihrauch predigen? Da sind Sie doch Experte!“

Bohnen schluckte und konnte vor Freude nicht antworten. Tonlos murmelte er: „Gern!“

Die Gemeinde von St. Ludgerus erlebte eine denkwürdige Festmesse. In seiner Begrüßung berichtete Underberg von der unerwarteten Weihrauch-Not, von der Firma Berndorf in Schleiden und vom Telefonat mit Bohnen. Alle Augen richteten sich auf den evangelischen Gast, der stolz neben Underberg am Altar stand und bereits darauf wartete, zum Evangelium die nächste Inzens anzurichten – und danach die Predigt zu halten.

Gülderns Kirchgänger waren von Underbergs Weihnachtspredigten einiges gewöhnt, doch Bohnen konnte ihm die Myrrhe reichen. Er begann mit der Herkunft des Weihrauchs und nannte ihn bald den „ersten Raumduft des Neuen Testaments“. Bohnen wörtlich: „Die Ankunft der drei Weisen aus dem Morgenland war olfaktorisch für den Stall mit der Krippe das schönste Geschenk. Zwar war das Jesuskind der Sohn Gottes, doch sein Geruch widerlegte das Dogma von der unbefleckten Windel!“, rief Bohnen, und alle in St. Ludgerus lachten.

Bohnen erklärte auch, welche Rolle Weihrauch in der Medizin spielt. Er helfe bei Entzündungen, Rheuma und Durchblutungsstörungen. Seine Predigt schloss mit den Worten: „Weihrauch ist, wie Psalm 141 sagt, ein fliegender und duftender Teppich für unser Gebet zu Gott.“

Hinterher standen alle vor dem Kirchenportal, freuten sich über den Coup und begrüßten den Duftspender Bohnen. Küster Ingenpahs gratulierte ihm und hörte fast nicht mehr auf, die Hand des Gastes zu drücken.

So merkte er zunächst nicht, dass jemand auf seine Schulter klopfte. Als er sich umdrehte, sah er eine kleine, aparte Frau, die hinter einem großen Paket fast verschwand.

„Sind Sie der Herr Ingenpahs?“ Die Stimme kam ihm bekannt vor. „Mein Name ist Eberle. Wir haben ja nicht mehr telefonieren können, und ich habe mir Sorgen gemacht. Da wollte ich Ihnen den Weihrauch persönlich bringen, bevor etwas anbrennt. Leider gab es im Autobahnkreuz Kaarst einen Unfall. Als ich dann verspätet zur Messe ankam, da roch ich schon die Bescherung. Das mit Pastor Bohnen hat also geklappt!“ Und wieder zwinkerte sie Herrn Ingenpahs zu. Im Hintergrund sah er einen Lieferwagen stehen: „Fa. Berndorf (Schleiden), Kirchenbedarf. Alle Konfessionen.“

In diese Situation platzte Underbergs mächtiger Bariton: „Kinder, lasst uns zu mir gehen. So fromm kommen wir nie mehr zusammen.“

Bald war Leben in Underbergs Bude. Er und Bohnen fachsimpelten über das Verbindende und das Trennende ihrer Konfessionen. Frau Eberle und Pastor Bohnens Schwester standen in der Küche, plauschten und machten die Würstchen warm. Herr Ingenpahs entkorkte die Weinflaschen und guckte verstohlen zu Frau Eberle in die Küche hinüber. Im Hintergrund lief selbstverständlich Bachs „Weihnachts-Oratorium“.

Als sie ins Wohnzimmer kam, fragte sie: „Ich darf mich doch zu Ihnen setzen, Herr Ingenpahs?“ Der errötete vor Freude.

Das Festmahl war nicht opulent, aber stimmungsvoll. Es roch nach Kartoffelsalat, Bockwürstchen, Zimtsternen, Pfeffernüssen, Spekulatius – und natürlich steckte noch Weihrauch in ihren Kleidern, Pastor Bohnen hatte alle in der Kirche ordentlich eingenebelt.

So saßen sie bis weit nach Mitternacht vergnügt und froh beisammen, fünf Räuchermännchen aus Fleisch und Blut, die einander an diesem Heiligen Abend gefunden hatten.

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