Premiere im Schauspielhaus Düsseldorf „Lulu“ in der Genderfalle

Düsseldorf · Am Schauspielhaus Düsseldorf macht Bernadette Sonnenbichler aus Wedekinds „Lulu“ eine feministische Performerin, der kein Mann genügt.

 Szene aus „Lulu“ im Großen Haus mit Lieke Hoppe und Florian Steffens.

Szene aus „Lulu“ im Großen Haus mit Lieke Hoppe und Florian Steffens.

Foto: Thomas Rabsch

Lulu zieht sich aus. Gleich zu Anfang zeigt sie ihren nackten Körper, sie kennt ja die Erwartungen an ihre Rolle. Aber sie bleibt Herrscherin der Szene, zeigt den Voyeuren, was sie sehen wollen, damit das erledigt ist.

In den folgenden knapp drei Stunden wird ihrem Körper manches widerfahren: Lulu wird sich als Muse eines Action-Painters in Farbe suhlen, sie wird mit Ehemännern und Liebhabern ringen, ihrem Ziehvater das kalte Herz aus dem Leib schießen und sich als Hure bis zur totalen Erschöpfung verausgaben. Aber nackt sein wird Lulu nicht mehr. Weil sie nicht mehr will.

Bernadette Sonnenbichler inszeniert am Schauspielhaus Frank Wedekinds „Lulu“, jene Monstertragödie über eine teuflisch schöne Frau, die aus der Gosse aufsteigt, Männer in höchsten gesellschaftlichen Kreisen zu hörigen Narren macht, einen von ihnen tötet, in die Halbwelt zurückfällt und dort von Serienmörder Jack the Ripper beseitigt wird. Skandalstück, Gruseldrama, Inszenierung altherrlicher Männerfantasien. Die Frau als Objekt, als dressierte Femme Fatale, geht an ihren Exzessen zu Grunde, weil die bürgerliche Norm es so will.

Sonnenbichler befreit diese monströse Figur aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit. Sie legt ihrer Lulu jede Menge Text aktueller feministischer Autorinnen in den Mund, lässt sie wie Virginie Despentes, wie Caroline Rosales oder Margarete Stokowski über Körper, Sexualität, weibliche Rollenmuster sprechen, während sie mit wechselnden Ehemännern den sozialen Aufstieg probt. Diese Lulu reflektiert, was geschieht, sie handelt in vollem Genderbewusstsein. Sie erfüllt keine Männerfantasien, sondern spielt mit ihnen. Eine Performerin. Eine Emanze.

Lieke Hoppe ringt der theoretischen Aufblähung der Tragödie möglichst viel Leben ab, ist launisch, aggressiv, lebenshungrig, kindisch, charmant, provozierend, lockend, schmeichelnd, ironisch, immer überlegen. Obwohl sie zu springen hat zwischen Wedekind-Sound und Feminismus-Diskurs, der nicht für die Bühne geschrieben wurde, und dabei eine bis aufs Skelett abgenagte Handlung vorantreiben muss, formt sie eine spannende Figur.

Eine gegenwärtige, selbstbewusste Lulu, die sich die Männer vornimmt, sie durchschaut und abserviert. Dabei versuchen Florian Steffens, Wolfgang Michalek, Joscha Balta und der Rest des männlichen Ensembles auf unterschiedlich jämmerliche Weise, der rebellischen, skrupellosen Kind-Frau, doch noch Herr zu werden. Lulu führt sie alle vor, bis sich jeder von ihnen selbst entblößt hat. Einzig Gräfin Geschwitz, von Claudius Körber akrobatisch in der Schwebe gehalten, versucht Lulu selbstlos zu lieben – und wird umso grausamer verstoßen.

Die Bühne ist ein weißer Kasten, ein Atelier, ein Kunstraum, der anfangs nur durch die Rahmen von Lulu-Abbildern betreten werden kann. Dieses reine Konstrukt wird bald mit vielen Litern Theaterfarbe in ein glitschiges Experimentierfeld verwandelt, gezeichnet von den Spuren körperlichen Ringens. Nach der Pause geht dem Kampf die Puste aus. Da steckt Lulu in einem fleischfarbenen Stoffschlauch, ist wie einst die Tänzerin Martha Graham gefangen in der eigenen Haut und steigert sich irgendwann in ein letztes furioses Solo der Selbstzerstörung. Bei Sonnenbichler gibt es keinen Jack the Ripper, die Frau entscheidet selbst, über ihre Grenzen zu gehen. Unterlegt ist das dauernd mit einem coolen, nervösen Club-Soundtrack, den Bühnenmusiker Jacob Suske live in das Atelierzimmer hineinspielt.

Sonnenbichler untergräbt ein vor gut 100 Jahren skandalöses Werk durch aktuelle Diskurse. Doch ist die feministische Selbstermächtigung der Lulu letztlich eine Zähmung, die dem Stück auch Brisanz nimmt. Wedekinds „Lulu“ ist ja nicht nur Objekt männlicher Fantasien. Sie ist ein missbrauchtes Kind.

Eine aus der Unterschicht, die ihren Körper ausbeuten muss, um zu überleben. Ein Opfer der Verhältnisse. Strukturelle Zwänge nennt man das heute, gläserne Decke, Gender-Pay-Gap. Der Kampf der Geschlechter, den Wedekind ganz im Feld der Sexualität entfesselt, ist doch eigentlich ein Kampf um soziale Herrschaft – und längst nicht ausgetragen.

Sonnenbichler und ihr weitgehend weibliches Inszenierungsteam können mit der expressionistischen Erotik Wedekinds nichts anfangen. Sie sind zu beschäftigt damit, „Lulu“ mit den Mitteln neofeministischer Theorie vor dem männlichen Fantasma zu retten. Am Ende steht sie da, ganz allein, im fleischfarbenen Körperanzug geschützt vor anzüglichen Blicken, und spricht von einer Zukunft, in der eine Göttin das Feuer auf die Erde bringt. Dann geht sie ab, erschöpft. Wedekind diese Utopie abzuringen, war ein hartes Stück Arbeit.

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