Neu im Kino Schräge Figuren in einem märchenhaften Dorfkosmos

„Was man von hier aus sehen kann" wurde 2017 zum Bestseller. Regisseur Aron Lehmann verwandelt den Roman von Mariana Leky in einen skurrilen, liebevollen Film über die deutsche Provinz.

 Luna Wedler als Luise, Karl Markovics als der Optiker und Corinna Harfouch als Selma in "Was man von hier aus sehen kann".

Luna Wedler als Luise, Karl Markovics als der Optiker und Corinna Harfouch als Selma in "Was man von hier aus sehen kann".

Foto: dpa/Walter Wehner

Das Okapi ist ein seltenes Tier, das nur in den äquatorialen Regenwäldern des Kongos vorkommt. Aber auch wenn Aron Lehmanns „Was man von hier aus sehen kann“ nicht in Zentralafrika, sondern im Westerwald angesiedelt ist, spielt das Okapi hier eine wichtige Rolle. Denn immer wenn das Tier Selma (Corinna Harfouch) im Traum erscheint, stirbt in den nächsten 24 Stunden ein Mensch im Dorf. Die mystischen Vorhersehungen gehören im Ort schon längst zur Normalität. Schnell spricht sich der Okapi-Traum herum, dessen letale Folgen dank jahrzehntelangen Erfahrungen niemand anzweifeln würde. Am Postbriefkasten bildet sich eine lange Schlange, weil alle präventiv einen Abschiedsbrief und sich etwas von der Seele schreiben möchten, nur für den Fall, dass es sie trifft. Nachdem der Tod seine Arbeit verrichtet hat, wollen sie ihre schriftlichen Geständnisse ebenso panisch wieder zurück haben.

Einen märchenhaften Dorfkosmos baut Lehmann („Jagdsaison“) in seinem Film auf und bevölkert ihn mit einem guten Dutzend skurriler Charaktere. Da ist Selmas seltsam verhuschte Enkelin Luise (Luna Wedler), aus deren Perspektive der Film seine Geschichte erzählt. Wenn sie etwas sagt, was sie selbst nicht glaubt, fällt etwas von der Decke oder aus dem Himmel herab. Seit sie als Kind ihren liebsten Freund verloren hat, vermeidet die Buchhändlergehilfin längeren Blickkontakt. Der namenlose Optiker (Karl Markovics) hört Stimmen in seinem Kopf und fängt jeden Tag einen Brief an seine heimliche Liebe Selma an, ohne ihn zu Ende zu bringen.

Dabei weiß das ganze Dorf inklusive der Angebeteten schon lange, was Sache ist. Die missmutige Marlies (Rosalie Thomass) hat immer schlechte Laune. Keiner weiß warum, und niemand versucht daran etwas zu ändern. Die abergläubige Elsbeth (Hansi Jochmann) beherbergt buddhistische Mönche in ihrem Haus, die in kleinen Prozessionen durch Dorf und Landschaft wandeln und dem Westerwald ein exotische Flair verleihen. Einer hat immer Hunger und trägt stets einen Schokoriegel im Gewand. Frederik (Benny Radjaipour) kommt aus Hessen, will nach Japan und verliebt sich in Luise, die ihm ungewöhnlich lange in die Augen schaut und zum Vorstellungsessen gleich das halbe Dorf einlädt.

Das skurrile Figurenkabinett in „Was man von hier aus sehen kann“ stammt aus Mariana Lekys gleichnamiger Roman, der sich nach seiner Erstveröffentlichung 2017 über zwei Jahre in den Bestsellerlisten hielt. Lekys plastische, märchenhafte Erzählweise ruft förmlich nach einer filmischen Umsetzung und Regisseur Aron Lehmann scheint hierfür der richtige Mann. Seit seinem originellen Debüt, der Kleist-Persiflage „Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ (2011), gehört er zu den interessanteren Nachwuchstalenten des deutschen Kinos. In „Das schönste Mädchen der Welt“ (2018) unterzog er „Cyrano de Bergerac” einem gründlichen Update und schickte den verliebten Poeten als Rapper auf Klassenfahrt nach Berlin. Gerade erst war seine Komödie „Jagdsaison“

(2022) im Kino, die mit ihrem „female empowerment“ und drastischem Humor frischen Wind in den deutschen Lustspielmief brachte. Und auch in seinem neuen Film ist Lehmann sichtbar bemüht, den unorthodoxen Geist der literarischen Vorlage auf der Leinwand zum Leben zu erwecken. Die Zeichnung der schrägen Figuren und ihrer Neurosen gelingt ihm dank einer lebhaft aufspielenden Besetzung bestens, womit sich der komödiantisch-humanistische Geist des Buches prachtvoll auf der Leinwand entfaltet. Auch die Ausstattung, die aus Original-Locations einen märchenhaften Mikrokosmos kunstvoll zusammenwebt und mit detailverliebten Sets überzeugt, unterstützt den surrealen Grundton der Erzählung.

Allerdings führt die Rückblendendramaturgie, mit der die mehr als zwanzig Lebensjahre umfassenden Romanteile ineinander verschränkt werden, zu streckenweiser Materialermüdung. Auch der Off-Kommentar, mit dem regelmäßig Buchzitate eingeschleust werden, wirkt deutlich überdosiert. Und so entwickelt sich „Was man von hier aus sehen kann“ zu einem interessant durchwachsenen Kinoerlebnis, das sich erfolgreich von den tragikomischen Formatvorlagen des deutschen Films löst, aber sich nicht so recht zu einem neuen, kohärenten Ganzen zusammenfügen will.

„Was man von hier aus sehen kann“ D 2022, 109 min, Regie und Buch: Aron Lehmann nach dem Roman von Marian Leky; mit Luna Wedler, Corinna Harfouch, Karl Markovics, FSK 12.

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