Kulturlexikon Eine Welle im französischen Film

In den 1950er Jahren befreiten die Regisseure der „Nouvelle Vague“ den Film aus dem Studio.

 Jean Seberg mit Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“.

Jean Seberg mit Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“.

Foto: picture alliance / Collection Ch/dpa

Da ist diese anmutige Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar: Munter läuft Jean Seberg im dichten Feierabendverkehr über die Champs-Élysées, um die „New York Herald Tribune“ zu verkaufen. Ein aparter Zeitungsjunge mitten im realen Paris, das war etwas Neues im französischen Kino der frühen 1960er Jahre. Später wird die grazile Zeitungsverkäuferin mit Jean-Paul Belmondo ausgehen, einem Nichtsnutz, der einen Polizisten erschossen hat, aber seine Zigaretten raucht wie Humphrey Bogart. Natürlich geht die Geschichte nicht gut aus.

Jean-Luc Godards Erstling „Außer Atem“ zeigt in seiner jazzigen Lässigkeit, seinem jugendlichen Trotz und mit den gewollten Verstößen gegen die hergebrachten Regeln des Filmemachens, was eine Riege junger französischer Filmemacher nach dem Zweiten Weltkrieg wollte: Luft, Licht, Leichtigkeit in den Film bringen und zugleich die Abgründigkeit einer Kunst verteidigen, die sich dem Erwartbaren widersetzt.

In Frankreich liefen in den 1950er Jahren vor allem steif inszenierte Literaturverfilmungen, in Studios produziert, die meisten ziemlich vorhersehbar. Dagegen regte sich Widerstand bei jungen Künstlern, die von aufregenden Filmen träumten und sich Gedanken machten über das expressive Potenzial der Kunstgattung Film – und warum es in Frankreich nicht genutzt wurde. Sie fanden Vorbilder in Hollywood-Produktionen etwa von Orson Welles, die während der deutschen Besetzung in Frankreich nicht zu sehen waren, und im italienischen Neorealismus. Weil sie solchen Werken und ihrer eigenen Filmtheorie Öffentlichkeit verschaffen wollten, gründeten die Erneuerer des französischen Kinos zunächst eine Filmzeitschrift: die „Cahiers du Cinéma“. 1951 erschien die erste Ausgabe. In den „Cahiers“ entwickelten Autoren wie François Truffaut, Claude Chabrol, Éric Rohmer, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard ihre Ideen für eine „neue Welle“, eine „Nouvelle Vague“ in der Filmkunst. Und bei der Theorie sollte es nicht bleiben: Aus den Autoren wurden Regisseure, die bis heute für diese Epoche der Filmgeschichte stehen.

 Die Technik kam der Generation „Nouvelle Vague“ zur Hilfe. Mit leichteren Handkameras konnten sie die Studios verlassen, mit empfindlicherem Filmmaterial bei Tageslicht in der Wirklichkeit drehen. Sie nutzten diese Freiheit, um ironisch mit Genregesetzen zu spielen und neue Ausdrucksformen zu finden – auch abstraktere Formen wie den Essayfilm. Die neue Generation sah den Film nicht mehr in der Pflicht, literarische Stoffe zu vermitteln. Sie wollte ihre eigenen Geschichten erzählen, mit Ausdrucksmitteln experimentieren, mit Sehgewohnheiten brechen. Die neuen Werke sollten die Handschrift des Regisseurs tragen, der sich vom Szeneneinrichter zum Filmautor emanzipiert hatte. Der Charme dieser Erneuerung hielt in Frankreich bis etwa Mitte der 1960er Jahre und hinterließ Spuren – auch in Deutschland.

Als am 28. Februar 1962 eine Gruppe deutscher Filmemacher in Oberhausen verkündete, „Opas Kino“ sei tot, und im „Oberhausener Manifest“ eine Erneuerung des deutschen Films forderte, war das auch eine Reaktion auf die Entwicklung in Frankreich. Es ging um den Bruch mit Film-Klischees wie dem Happy End, um die Befreiung von Konventionen und vom Diktat der Vermarktbarkeit. Es ging um die Selbstbehauptung des Films als Kunstform. Eine Aufgabe, die immer wieder die Energie neuer Wellen verlangt.

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