Eine Sprachanalyse des Koalitionsvertrags „Deutschland“ stürzt ab

Berlin · Den neuen Koalitionsvertrag sollte man einmal ganz genau beim Wort nehmen. Und zwar Wort für Wort. Das eröffnet spannende Einblicke.

 Die Wortwolke des Koalitionsvertrags 2021.

Die Wortwolke des Koalitionsvertrags 2021.

Foto: Christian Albustin

Wie wichtig ist Ihnen eigentlich „Hochwasserschutz“? Wie groß schätzen Sie „Starkregenrisiken“ ein? Und wie gefährlich „Flutkatastrophen“? Nun, so enorm unsere Ängste auch sein mögen, so beruhigend beziehungsweise souverän scheint sich die künftige Koalition zu geben. Jedenfalls finden sich die genannten Begriffe auf den insgesamt 177 Seiten, die Grüne, soziale und freie Demokraten mit ihren Plänen und Zielen beschrieben haben, jeweils nur ein einziges Mal vor. Klingt jetzt ein wenig nach linguistischer Erbsenzählerei, und ist es womöglich auch. Aber dennoch sollte man über die Wortwahl des designierten Führungspersonals unseres Landes nicht stillschweigend hinwegsehen.

Die Häufigkeit bestimmter Wörter haben wir nun nicht selbst gezählt, das hat das Programm „Python“ für uns erledigt. Die Computer-Giftschlange fand natürlich auch den Spitzenreiter. Das ist nicht Freiheit, nicht soziale Gerechtigkeit und nicht Umwelt – um zentrale Interessensgebiete der Beteiligten zu nennen – sondern ein Verb: „stärken“ findet sich sage und schreibe 236 mal im Koalitionsvertrag, worauf man schließen könnte, dass die vier Jahre davor eher als schwächelnde Legislaturperiode wahrgenommen wurden. Allerdings hatte die Führungsriege der damaligen Großen Koalition auch diese Schwachstelle bereits in den Blick genommen. Im Koalitionsvertrag von 2018 findet „stärken“ immerhin 216 mal Erwähnung.

Beim Blick auf die sprachliche Hitparade sollte man sich nicht unbedingt mit Kinkerlitzchen aufhalten, gleichwohl diese manchmal das Salz in der feuilletonistischen Suppe sein können. Wie etwa die zunächst unscheinbare Konjunktion „sowie“. Klar, es gehört zum allgemeinen Sprachgebrauch, denkt man, und deshalb kommt es in der Vereinbarung von 2018 insgesamt 224 mal vor und landete damals auf Häufigkeitsplatz eins; diesmal wurde es noch 200 Mal verwendet und ist damit das zweithäufigste Wort. Ist „sowie“ in seiner Eigenschaft als Bindewort nicht geradezu prädestiniert, zum Symbol von Koalitionsverhandlungen zu werden? Denn so, wie das Wort Haupt- und Nebensätze syntaktisch miteinander verbindet, so müssen auch politisch unterschiedliche Interessen zusammengeknüpft werden. Die Aussagen werden dann naturgemäß vielgestaltiger und reichhaltiger, die Sätze werden länger und das kleine „sowie“ zum sprachlichen Kitt, der alles fein zusammenhalten muss.

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Das häufigste Substantiv? Das ist „Deutschland“. Aber auch dabei gibt es interessante Verschiebungen zwischen den Papieren von 2018 und aus diesem Jahr. Unter Merkel und unter CDU-Wortführerschaft wurde unser Land 193 mal erwähnt (Platz drei), während es heuer – vielleicht ja aus Gründen einer zunehmend globaleren Wahrnehmung – auf Platz sechs geradezu abstürzt und in den Formulierungen der Ampel nur noch 120 mal vorkommt. Kurz dahinter steht übrigens „europäisch“, ein Wort, das 2018 erstaunlicherweise erst an 20. Stelle auftauchte. Dafür wollte die große Koalition in ihrem Programm weitaus mehr „fördern“ (116 mal) als die Ampel jetzt (91).

Den Koalitionsvertrag einfach mal wörtlich zu nehmen, kann inspirieren, auch wenn die Betrachtung gelegentlich einer Anrufung des Orakels von Delphi gleicht. Dennoch bleibt immer zu bedenken, dass Sprache natürlich ein Machtinstrument ist. Und die Sprache der Politik ist eine Sprache der Begriffe. Zwar sind Begriffe verdichtet – sie müssen komplexe Zusammenhänge im wahrsten Sinne des Wortes auf einen Begriff bringen –, doch diese Reduzierung ist notwendig, um handlungsfähig zu bleiben. Es geht darum, Schlüsselwörter zu kreieren und diese dann zu besetzen. Solche Begriffe tendieren dann gelegentlich zu Utopien, die einen bisweilen beträchtlichen Erwartungshorizont eröffnen. Von „realistischen Projektionen“ reden etwas dezenter die Sprachwissenschaftler.

Für den Schriftsteller Joseph Conrad (1857–1924) galt hingegen das: „Wer zu überreden sucht, sollte sein Vertrauen nicht auf das durch schlagende Argument setzen, sondern auf das treffende Wort. Die Macht des Schalles ist stets größer gewesen als die Macht der Vernunft.“

Auch darum ist es in der aktuell so aufgeladenen Verhandlungs- und Entscheidungssituation hierzulande wohltuend, auch mal auf die sprachlichen Hinterbänkler des Koalitionsvertrags zu schauen. Was wir da finden? Nur einmal erwähnte, aber doch so fantasieanregende Begriffe wie „Negativemissionen“, „Klimakabinett“, „Atomenergie“ und „Prognosen“. Fast so wolkig wie „stärken“ und „fördern“.

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