Ein gerechter Mann auch im „Struwwelpeter“ „Niklas“ – der klassische Antirassist
Frankfurt · Der „Struwwelpeter“ ist mit seinen brutalen Geschichten zu Erziehungszwecken kaum geeignet. Bis auf die Geschichte mit Niklas. In seiner Geschichte bekämpft der heilige Mann Kolonialismus und Rassismus.
Sie ist vermutlich eine der ersten deutschen Comicgeschichten. Und eine der schädlichsten überhaupt. Zumindest war es lange Zeit pädagogische Übereinkunft, dass die Geschichten des „Struwwelpeters“ sich nicht zu irgendwelchen Erziehungsmaßnahmen eigneten. Schließlich werden einem Ungehorsamen die Finger abgeschnitten, andere Kinder verbrennen oder verhungern, Träumer ertrinken. Was früher einst als drakonische Strafen verstanden wurde, trägt seit langem den Stempel der „Schwarzen Pädagogik“. Statt die Zöglinge an Vernunft und Einsicht heranzuführen, werden Horrorszenarien auf Traumata-Niveau präsentiert.
Grundsätzlich hat sich an dieser Einschätzung aus einigen guten Gründen kaum etwas geändert, allerdings ist der Blick auf das Bilderbuch von 1844 deutlich differenzierter geworden. Auch das zurecht. Denn obwohl aus den Geschichten im „Struwwelpeter“ nie ein pädagogisches Lehrbuch werden wird, so lohnt es doch, genauer auf Autor und Zeitumstände zu achten. Denn sein Urheber, der Frankfurter Arzt und Psychologe Heinrich Hoffmann (1809-1894), war alles andere als ein finsterer, erzkonservativer Familientyrann. Er gilt als Liberaler, der aus dem Geist des Biedermeier an die Kinder vor allem Moralvorstellungen weitergeben wollte.
Vermutlich sind die brutalen Szenen auch der hohen Kindersterblichkeit dieser Zeit geschuldet. Unter den hygienischen Bedingungen seiner Zeit konnte das Daumenlutschen durchaus zu einer Todesgefahr werden.
Fortschrittlich aber war Hoffmann vor allem mit seinen Formen der Bestrafungen. Denn es sind fast nie die Eltern, die zur Misshandlung greifen. Wasser, Feuer, Wind und Hunde sind quasi die Vollstrecker. Auch das wird als Hinweis gedeutet, dass es Hoffmann nicht so sehr um die Erziehung gegangen sei, sondern vielmehr um Warnungen vor den Gefahren, die im Alltag lauern können.
Und noch etwas zeichnet den Kinderarzt und Psychologen aus, dessen Bilderbuch noch zu Lebzeiten wundersame 950.000 Mal verkauft wurde und heute in 40 Sprachen verfügbar ist: Die Kinder, die Regeln übertreten und nicht gehorsam sind, werden fast nie sozial geächtet. Sie werden nicht vor den Pranger gestellt, werden nicht gehänselt, nicht isoliert. Es gibt allerdings Ausnahmen, und eine ist besonders aufschlussreich. Das ist die Geschichte vom Nikolas und einem Jungen, der als „kohlpechrabenschwarz“ beschrieben und von drei Jungs verfolgt wird, die sich über ihn lustig machen. Ludwig, Kaspar und Wilhelm verspotten den namenlosen Jungen, weil er nicht so aussieht wie sie. Und die Reaktion des „großen Nikolas“: der schnappt sich die drei und tunkt sie tief – „bis überm Kopf“ – in ein riesiges Tintenfass. Und die Moral von der Geschicht’ endet mit diesen Worten: „Du siehst sie hier, wie schwarz sie sind, viele schwärzer als das Mohrenkind! Der Mohr voraus im Sonnenschein, die Tintenbuben hintendrein; und hätten sie nicht so gelacht, hätt Niklas sie nicht schwarz gemacht.“Natürlich ist die Rede von „Mohr“ und „Mohrenkind“ unkorrekt und aus unserem Sprachgebrauch zum Glück getilgt. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich darüber niemand Gedanken gemacht. Was Heinrich Hoffmann und mit ihm der Nikolaus aber dafür im Sinn hatten, war dies: Rassismus und Kolonialismus schon in seinen Anfängen zu bestrafen. Das ist für den Geist jener Zeit fast revolutionär – und obendrein ein Lehrstück bis in unsere Gegenwart hinein geblieben.
Sieh einmal, der Struwwelpeter.