Krieg in der Ukraine Die Macht des Feindbilds

Lange wiegte sich der Westen in Sicherheit vor einem militärischen Ernstfall in Europa. Dass dies ein verhängnisvoller Irrtum sein könnte, prophezeite der deutsche Soziologe Ulrich Beck schon vor 30 Jahren.

Wladimir Putin, russischer Präsident und militärischer Aggressor.

Wladimir Putin, russischer Präsident und militärischer Aggressor.

Foto: dpa/Alexei Nikolsky

Beginnen wir mit dem Ende der Geschichte. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte es ausgerufen, drei Jahre nach jenem wahrhaft triumphalen Moment, als der diktatorische Kommunismus im Osten zusammenbrach und die freie Marktwirtschaft im Westen scheinbar obsiegte. Trotz der sozialen Ungleichheit, die der Demokratie innewohnt, habe sie sich als Ordnungsmodell durchgesetzt, weil sie das menschliche Bedürfnis nach sozialer Anerkennung besser befriedige, konstatierte der Gelehrte 1992. Somit sei der Kampf der Systeme entschieden, es entfalle ein wesentliches Antriebsmoment der Geschichte.

Nun scheint es, als müsste das Ende vom Ende der Geschichte erzählt werden, das der russische Überfall auf die Ukraine einläutet. Ein historisches Kapitel schließt mit der Erkenntnis, dass sich Geschichte wiederholen kann und dass die Ablehnung von Krieg keinesfalls bedeutet, dass es dann einfach keinen Krieg mehr gibt. Schon länger war der Gegensatz zwischen Demokratie und Autokratie für alle sichtbar wieder deutlich hervorgetreten. Jetzt ist die Welt abermals in Gut und Böse geteilt, wobei die Grenze dazwischen gefährlich nah verläuft.

Warum ist die autoritäre Bedrohung aus dem Osten für das demokratische Selbstverständnis im Westen offenbar keine Herausforderung gewesen? Wieso hat hier kaum jemand glauben wollen, dass Europa angegriffen werden könnte?

Just in demselben Jahr, als Fukuyama seine international beachteten Gedanken niederschrieb, veröffentlichte der deutsche Soziologe Ulrich Beck einen bemerkenswerten Aufsatz in der „Zeit“,  dem freilich weniger Aufmerksamkeit beschieden war, weil er dem Zeitgeist vor drei Jahrzehnten widersprach. Sein Titel: „Der feindlose Staat“. Darin gießt Beck gehörig Wasser in den Wein vom größten anzunehmenden Glücksfall der Geschichte, indem er neue Unsicherheiten und Verwirrung prophezeit.

Becks These: „In allen bisherigen Demokratien gibt es zwei Arten von Autorität: Die eine geht vom Volke, die andere geht vom Feinde aus. Feindbilder integrieren. Feindbilder ermächtigen. Feindbilder haben höchste Konfliktpriorität. Sie erlauben es, alle anderen gesellschaftlichen Gegensätze zu überspielen, zusammenzuzwingen. Feindbilder stellen sozusagen eine alternative Energiequelle für den mit der Entfaltung der Moderne knapp werdenden Rohstoff Konsens dar.“ 

Es seien die sowjetischen Raketen gewesen, schreibt Beck, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Westen erst erschaffen, seine Staaten grenzüberschreitend in Verteidigungsbündnisse gezwungen und somit ein Stück weit denationalisiert hätten. Die Widersprüche zwischen Demokratie und Militär im Westen schienen vereinbar, denn Feindbilder, so der Soziologe, begrenzten seit jeher die Demokratie und ermächtigten staatliches Handeln. Das allgemeine Wahlrecht und die allgemeine Wehrpflicht seien gleichsam Zwillinge: „Sie kommen im 19. Jahrhundert annähernd zusammen auf die Welt.“

Zugleich registriert Beck im Kalten Krieg eine paradoxe Entwicklung: Die neue Form der Hochrüstung, die mittels eines atomaren Gleichgewichts des Schreckens „heiße“ Konflikte für annähernd ein halbes Jahrhundert im Keim erstickt, sorgt dafür, dass sich die Gesellschaft von der unmittelbaren Militarisierung entfernt. Waren alle Demokratien bisher militärisch halbierte Demokratien, so wird dieser Spagat erstmals als schmerzhaft empfunden, als sich der Ost-West-Gegensatz schließlich auflöst und der Staat plötzlich feindlos dasteht.

In der Folge habe die durchgesetzte Demokratie die Ernstfallbereitschaft aufgehoben, analysiert Beck. Und nicht nur das: Der Staat wandle sich primär zum Wohlfahrtsstaat, das fehlende Feindbild begünstige die Individualisierung der Gesellschaft, Fragen der kollektiven Sicherheit rückten in weite Ferne. „Ich weiß nicht, ob es möglich ist, das Experiment der Moderne ohne Feindbilder zu bestehen“, lautet sein Resümee.

Einen Teil des Ausgangs jenes Experiments hat Beck, der 2015 starb, noch besichtigen können: die Annexion der Krim im Jahr 2014. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Russlands Präsident Putin glaubte, sich dieses Schurkenstück herausnehmen zu können, weil ein nicht auf den Ernstfall präparierter, konfliktscheuer Westen kaum entschieden auf diesen völkerrechtswidrigen Akt reagieren würde. Und so war es ja auch: Es gab ein paar Sanktionen, aber ansonsten ging das Leben weiter wie bisher.

In den europäischen Hauptstädten erhoben sich damals durchaus Stimmen, die warnten: Man kann das, was da gerade geschieht, nicht anders als eine feindliche Handlung betrachten, die sich gegen uns alle richtet. Aber Russland als feindliche Macht – das konnten sich, das wollten sich die Leute nicht mehr so richtig vorstellen. Dabei geht nicht um Demagogie, Hetze oder Desinformation, die mit dem Freund-Feind-Schema häufig verbunden werden. Becks Ansatz lautet: Ein Feind lenkt den Blick auf sich selbst.

Das Bekenntnis zu Werten wächst mit dem Wissen, wie fragil ihre Existenz ist. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen verteidigt, ihre Feinde benannt werden. Tabubrüche wie das Vorgehen Putins vor acht Jahren in der Ostukraine stellen eine massive Verletzung international gültiger Normen wie die Integrität von Staaten dar. Eine solche Verletzung bedeutet noch nicht den Tod einer Norm. Erst wenn sie hingenommen wird, ist das ihr Ende.

Seit dem 24. Februar 2022 weiß nahezu jeder im Westen wieder, was diese Regel besagt und welche Folgen ihre Nichtbeachtung haben kann. Die Ukraine kämpft gegen Invasoren, deren Grausamkeit aller Welt vor Augen führt, dass das nicht irgendwelche Gegner, sondern Feinde sind. Diese geschärfte Wahrnehmung bewirkt nun auch in Deutschland einen beispiellosen Konsens. Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet einen Stopp von Gas und Öl aus Russland, auch wenn die Folgen einschneidend wären. Die Nato, noch vor Kurzem vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron als „hirntot“ bezeichnet, erweist sich als quicklebendig. Auch die Bundeswehr soll nun im Eiltempo mit einem nie dagewesenen finanziellen Aufwand in eine Lage versetzt werden, in der sie sich schon lange nicht mehr befindet: abwehrbereit. Das Vorhaben findet selbst bei der Führung der Grünen starken Rückhalt, die einst aus der Friedensbewegung hervorgegangen waren.

Der Ernstfall ist eingetreten, es herrscht Krieg in Europa, vom Zaun gebrochen von einem Autokraten, den viele auch im Westen offen oder heimlich bewunderten. Aber so weit kann es kommen, wenn das Volk nicht gefragt wird und es keine Opposition gibt. Schon vor Kriegsausbruch hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offen benannt, auf was sich nicht nur die Europäer gefasst machen müssen: eine neue Allianz aus Russland und China, die anstelle von Rechtsstaatlichkeit in der Welt die Prinzipien vom „Recht des Stärkeren“ und „Nötigung anstelle von Kooperation“ durchsetzen will.

Geschichte kennt kein Ende, wohl aber hält sie ein paar tiefe Wahrheiten bereit. Eine davon kannten schon die Römer: Si vis pacem para bellum – Wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor.

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