Konzertgänger und Theaterbesucher Verrückt nach Kultur

Fünf Menschen, die von Oper, Tanz und Theater infiziert wurden und sich von Aufführung zu Aufführung neu begeistern lassen.

Fans sind wild und laut. Jeder soll wissen, wem ihre Liebe gehört und wie leidenschaftlich sie brennt. Wir stellen heute fünf Menschen vor, die solche starken Gefühle kennen. Allerdings schlägt ihr Herz nicht für Messi oder Beyoncé, ihre Helden sind Komponisten, Theaterschauspieler und Choreographen. Sie sind „addicted to culture“, also süchtig nach Kultur, weil sie sie glücklich macht.

Markus Wendel, 40, ist Feuerwehrmann in der Oper

Die erste Oper im Leben von Markus Wendel ist Wagners „Götterdämmerung“. Als sie nach sechs Stunden endet, ist er nicht verschreckt, sondern spürt eine leise Anteilnahme, die eine Sehnsucht werden kann. „Ich bin ganz und gar unmusisch aufgewachsen“, sagt Wendel. „Niemand in unserer Familie spielte ein Instrument und es wurde auch von uns Kindern nicht erwartet. Wir haben einmal im Jahr eine Kulturveranstaltung besucht, weil man das so machte.“ 

Noch 16 Jahre nach seiner Initiation wundert er sich, dass seine Ahnungslosigkeit ihm damals nicht die Sinne trübte. Stattdessen werden sie von Wagners Kunst geflutet und er beginnt, die Musik zu lieben. Seither stimmt er alle Bereitschaftsdienste mit dem Kalender von Oper und Schauspielhaus ab, wo er dann während einer Vorstellung die Brandsicherheitswache verantwortet.

Wendel hat mittlerweile das gesamte Repertoire der Deutschen Oper am Rhein durchpflügt. Allein „Tosca“ und „Hänsel und Gretel“ hat er 20 Mal gesehen, zehn Mal „1984“ im Schauspielhaus. Die Mehrfachbesuche sind  eine Art Vorratshaltung des Schönen, aus Sorge, dass eine Inszenierung frühzeitig abgesetzt werden könnte, denn Wendel hat noch in jeder Vorstellung Neues entdeckt. Besonders bei Wagner.

„Meine ersten 20 Wagner-Opern waren kein Genuss, sondern Arbeit. Die Texte sind schwer zugänglich, und man muss stillsitzen. Man muss überhaupt sehr lange sitzen.“ Und dennoch: Die vielen unendlich schönen Momente entschädigten für jede Anstrengung. „Ich finde es tollkühn von Wagner, 16 Stunden Musik zu komponieren und zu erwarten, dass sich das jemand anhört“, sagt er mit Blick auf den Ring des Nibelungen. „Ein solches Unterfangen muss doch belohnt werden.“

Im Sommer reist Wendel zu den Bayreuther Festspielen. Das macht er schon eine ganze Weile. Acht Jahre musste er auf sein erstes Mal warten, neuerdings jedoch bucht er sein Ticket im Internet, da sind die Chancen besser, sich eines zu erobern. Er mag die besonderen Orte, an denen Musik gespielt wird. Er war zu Konzerten in der Elbphilharmonie in Hamburg, in den Opernhäusern von Stockholm und Prag.

Kürzlich hat ihn ein Freund zu einem Konzertbesuch eingeladen. Meist ist das jetzt umgekehrt und Wendel ist der Inspirator. Glenn Miller wurde gegeben. „Ich bin nach einer halben Stunden gegangen, es hat mich nicht erwärmt.“

Helga Feuerlein, 75, sitzt im Rollstuhl

Helga Feuerlein kam in einer der schlimmen Bombennächte des zweiten Weltkriegs zur Welt. Die Geburt war schwierig, das Nervensystem des Säuglings angegriffen. Seit fast 40 Jahren sitzt sie im Rollstuhl, was sie nicht daran hindert, sich an jenen Welten zu erfreuen, die ihr ihre Mutter  einst eröffnete: Tanz, Theater, Konzerte. „Mein Rollstuhl sind meine Beine, die Kultur ist mein Psychiater. Und weil ich mir so viel davon gönne, kann ich gar nicht krank werden.“

Der Vater, ein Calvinist aus Rheydt, wurde im Internat mit Bildung überschüttet. Die Mutter war als junge Frau in einem hochherrschaftlichen Haushalt in München angestellt, wo Überstunden nicht mit Geld, sondern mit Eintrittskarten für Oper und Schauspiel beglichen wurden. „Meine Mutter liebte das“, sagt Helga Feuerlein. Die Familie lebte in Neuss, von wo aus auch die Tochter ihre Ausflüge in die nordrhein-westfälische Kulturlandschaft unternimmt.

Jede Strecke bestreitet sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, was oft kein Vergnügen ist. „Früher bin ich auch zur Kölner Philharmonie gefahren, das ist mir jedoch zu anstrengend geworden.“ Wenn S-Bahnen ausfallen oder Aufzüge defekt sind, sitzt auch Helga Feuerlein fest. Manchmal findet sie eine Alternative und denkt dabei an ihren Vater.  „Wenn ich als Kind gejammert habe, ,das geht nicht’, schimpfte er: ,Streng deinen Grips an. Wenn du nicht von A nach B kommst, dann nimm den Weg über C oder D’.“

Also hat sich Helga Feuerlein beherzt ins Leben aufgemacht. Ist nach Tibet und in die Taklamakan-Wüste gereist, schaut begeistert Theatervorstellungen in Neuss und Düsseldorf an, besucht Termine im Tanzhaus NRW. Oder sie belegt Kurse bei der Volkshochschule, weil sie mal China, dann wieder Himmel und Sterne besser verstehen möchte. „Mein Freund sagt immer: Du bist extrem neugierig.“ Das kann nur als Liebeserklärung gemeint sein.

Helga Feuerlein braucht all diese Anregungen. Die Energie der Kultur ist ihr Glücksbeschaffer. „Es ist schön, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich kann mich doch nicht immer mit denselben Leuten unterhalten, ich weiß ja, was sie denken.“

Marion Avgeris, 19, hat im Sommer ihr erstes Vorsprechen

Die Lehrerin trug stets einen eleganten langen Schal, wenn sie mit ihren Schülern ein Theaterstück besuchte. Im Entrée drehte sie sich um und sagte: „Das hier ist etwas ganz Besonderes. Kinder, spürt, wie schön das ist.“ Marion Avgeris ging damals in die dritte Klasse der Grundschule Sonnenstraße in Oberbilk und mochte die Anspannung sofort. Es kam ihr vor, als sei die Bühne bis ins Foyer hinausgewachsen mit all dem Esprit, Lampenfieber und der Überspanntheit der Künstler, die einen in die verwunschenen Reiche von Peter Pan und Ronja Räubertochter einluden. „Wir besuchten sogar Abendvorstellungen“, erzählt Marion Avgeris. „Die Eltern brachten uns zum Schauspielhaus und holten uns wieder ab. Die Zeit dazwischen gehörte uns Kindern. Das war kein organisierter Schulausflug – wir gingen aus.“

An der Realschule, wo sie anfangs Mitglied in der Theater-AG ist, klappt es mit dem Abschluss nur so mittel. Sie wechselt auf das Berufskolleg. „Ich weiß nicht, ob man das mit 16 von sich sagen kann, aber als ich auf dem Berufskolleg gestartet bin, war ich sehr unglücklich. Es fühlte sich an wie eine Lebenskrise. Da fiel mir ein, wie happy ich immer im Theater war.“

Im Jugendclub des Schauspielhauses lernt sie Menschen kennen, die genauso ticken wie sie. In den vergangenen zwei Jahren hat sie jede Inszenierung des Schauspielhauses gesehen. „Das ist unglaublich spannend. Man weiß, ja nie, was kommt.“ Oft tauschen sich die Jugendlichen per WhatsApp über ein Stück aus, das einer von ihnen gerade angeschaut hat. „Wir treffen uns dann spontan nach der Aufführung auf der Brücke im Central und diskutieren.“ Beinahe jeden Abend ist das so.

Schon länger steht sie auch selbst auf der Bühne, nicht nur in den eigens für Jugendliche geschnitzten Formaten, sondern aktuell in „Peer Gynt“, einer Inszenierung der Bürgerbühne. „Manche sagen: Ist ja nur die Zweitbesetzung, aber ich bin sehr glücklich damit.“

Im Sommer spricht sie das erste Mal an Schauspielschulen vor, Graz und Wien sind die ersten Stationen. „Das wird nicht leicht, ich weiß. Aber ich möchte das unbedingt.“

Norbert Meckel, 90, lebt im Seniorenstift:

Wenn Norbert Meckel an jedem ersten Sonntag im Monat die neun Stufen bis zu seinem Platz in der Tonhalle geschafft hat, beginnen für ihn die schönsten Momente des Tages. Sie tragen ihn durch die Woche, wie das eben so ist, wenn man plötzlich in einer Hollywoodschaukel sitzt, weil sinnliches Erleben großzügig Leichtigkeit verschenkt. Norbert Meckel ist 90 Jahre alt. Das Laufen ist beschwerlich geworden und er hofft, dass sein Glück, die Sternzeichenkonzerte der Düsseldorfer Symphoniker zu besuchen, noch eine Weile andauert. „Diese zwölf Termine im Jahr bedeuten mir sehr viel“, sagt er.

Während seiner Zeit als Direktor des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums in Benrath ging er nur selten ins Konzert, denn er hatte immer viel zu tun. Dann erkrankte seine Frau und er half, wo er konnte. Das Tonhallen-Abo erlaubte er sich nach ihrem Tod vor zwölf Jahren. Seine Töchter Isabel und Miriam Meckel, die Publizistin und Herausgeberin der „Wirtschaftswoche“, unterstützen den Vater, wenn es Schwierigkeiten gibt, das Konzerthaus zu erreichen.

Norbert Meckel liest viel, um stets dem Weg des Komponisten durch die Musik folgen zu können. „Mich interessiert, welche Gedanken er sich der gemacht hat. Wie es ihm gelang, seine Vorstellungen in Töne zu kleiden.“ Gustav Mahler etwa bewege ihn zutiefst. Er genieße es, zu hören und zu erkennen, was diese Musik offenbare. Im Symphonikerkonzert Anfang April wurde Mahlers  2. Sinfonie gespielt, die Auferstehungssinfonie. Für Norbert Meckel ein Werk mit Appellcharakter. „Wir sprechen so viel von Menschenwürde – und Tausende treten sie mit Füßen. Insofern enthält die Auferstehungssinfonie auch eine hochpolitische Botschaft.“

Über die Maßen liebe er Franz Schuberts „Winterreise“, diesen wunderbaren Strom schwermütiger Seelenzustände. Er schätzt es, wenn das Urmenschliche mit dem Herzen betrachtet wird. „Wo keine Romantik ist, wird es für mich schwierig.

Manchmal, wenn ihm die Töne allzu fern sind, sagt er zu seinem Freund, der im Konzert neben ihm sitzt: „In dieser Musik komme ich gar nicht vor.“ In seiner Wohnung in einem Düsseldorfer Seniorenstift hört Norbert Meckel viel Musik. „Aber ich kann sie nicht so laut stellen, sonst fallen die anderen von den Stühlen.“

Früher stand zu Hause ein Klavier. Als seine Frau erkrankte, verkaufte er das Instrument. „Sie hat sowieso immer viel besser gespielt als ich.“

Gerald Znidaric, 55, der Tanz lockt ihn immer wieder zurück ins Rheinland.

Spätestens alle zwei Monate sieht Gerald Znidaric seine  vier Freunde in Düsseldorf. Der Informatiker reist mit dem Zug aus München an, wo er inzwischen lebt. Die Treffen mit den alten Kumpels sind gesetzt, genauso wie der Ort ihrer Verabredung, der für eine Männerrunde allerdings eher ungewöhnlich ist.

Die fünf Freunde besuchen Vorstellungen des Ballett am Rhein, und wenn es sich Znidaric recht überlegt, dann ist es in erster Linie der Tanz, der ihn aus München regelmäßig wieder ins Rheinland lockt. Auf seine Freunde freut er sich natürlich auch.

„Ich habe sechs Jahre in Düsseldorf gelebt. In dieser Zeit wurde Martin Schläpfer Ballettdirektor. Seine Arbeit klang neu und belebend. Also habe ich mir den ersten Ballettabend angeschaut und bin dabei geblieben.“ 38 der 39 Premieren seit Schläpfers Start hat er gesehen, nur einmal klappte es nicht, weil er krank war. „Ich finde die Vielfalt an Tanz und Musik, die Schläpfer bietet, sagenhaft. Ich muss einfach alles sehen. Gegen diese Zuneigung bin ich machtlos.“ Denn sie rührt an seinen tieferen Schichten.

Das Sujet seiner beruflichen Tätigkeit als Informatiker bewege sich in klar gegliederten Strukturen und verfolge bestimmte Ziele. Zum Ausgleich dürfe es in seiner Freizeit gern wilder zugehen. „Der moderne Tanz ist frei in der Interpretation und der Zuschauer ist frei darin, dies zu nutzen. Das finde ich ganz wunderbar.“

Wenn Schläpfer 2020 nach Wien wechselt, wird Znidaric, der in Wien geboren wurde und dort studiert hat, sicher mal hinfahren. „Aber auch Demis Volpi ist vielversprechend, ich komme auch weiter nach Düsseldorf.“

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