Düsseldorf Uraufführung "Delhi": Geschichten vom Gefühl

Düsseldorf · Dieser Baum geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Entwurzelt ist er, sicher Hunderte Jahre alt. Er hängt kopfüber im Bühnenraum. Schwerelos. Von Anfang bis Ende ist er einziges Requisit. Er stiftet das Sinnbild in der deutschen Uraufführung von "Delhi – ein Tanz" im Düsseldorfer Schauspielhaus. Vielleicht ist er als Lebensbaum gedacht oder als Baum der Erkenntnis. Jedenfalls ist eine rabiate Entwurzelung vorausgegangen. Der Baum ist tot. So stellt sich die Frage: Wer hat das getan – und warum?

Das Stück des russischen Dramatikers Iwan Wyrypajew (Jahrgang 1974) untersucht die Frage von Existenz und Liebe, von Schuld, Mitgefühl und Sprachlosigkeit. Der Mensch ist oft überwältigt von großen Gefühlen, doch manchmal erlebt er ein Anti-Gefühl – so wie Ekaterina. Im Stück stirbt eingangs ihre Mutter. Als ihr die Nachricht überbracht wird, spürt sie nichts. Im Gegenteil: Wenig später packt sie ein so heftiger Lachanfall, dass ihr die Luft wegbleibt.

Ekaterina ist Geheimnisträgerin, sie hat den Tanz in der indischen Stadt Delhi erfunden, einen Tanz, der sich angesichts der schrecklichsten Erlebnisse vor Ort formte. Ekaterina hat Erfolg mit diesem Tanz, den sie Delhi nennt, weil er die Möglichkeit anbietet, Dinge zu bewältigen, die mit dem Verstand nicht zu fassen sind.

In sieben Kurzgeschichten gehen sechs Menschen miteinander um, in Liebe und Gleichgültigkeit, in Bitterkeit und mit Schuldzuweisungen. Gefühls-Qualifizierung im Theater ist das. Der Tod trifft immer wieder andere. Zu Beginn ertönen oft Musikfetzen, am Ende gibt es Applaus aus der Regie. Regisseur Felix Rothenhäuser arbeitet wie ein Choreograf, hält die Menschen auf Distanz. Sie schauen sich kaum an, dann aber verknäueln sie sich ineinander wie Tänzer beim modernen Pas de deux. Und sie küssen sich.

Als Ekaterina muss Stefanie Reinsperger ein billiges türkisfarbenes Kleidchen tragen. In ihrer athletischen Molligkeit stellt sie einen Antityp der Tänzerin dar, tanzen wird sie nicht. Doch sie beschert uns Theatermomente mit tief empfundener Dringlichkeit, zart, innig, überdeutlich. Zentral ist die Liebe zwischen ihr und Andrej (sich steigernd im Auschwitz-Schrei: Marian Kindermann), der eigentlich seine Frau Olga (Annika Olbrich) liebt. Dass die Mutter Ekaterina nicht liebt, lässt Verena Reichhardt boshaft und mit schnarrender Stimme heraushängen. Stefanie Rösner ist die akkurate Formalistin in der Kluft einer korrupten Krankenschwester. Die Frau ohne Namen gewinnt Profil durch Bettina Kerl.

Diese zweieinhalb Stunden sind gewonnene Theaterzeit. Am Ende lautet die Botschaft: Wo die Sprache versagt, beginnt die Kunst. Das Bild vom Baum klingt lange nach.

(RP)
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