Unser Buch der Woche Die kindliche Kränkung

Paris · Das neue Buch von der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux ist jetzt endlich auf Deutsch erschienen. Unbedingt lesenswert: „Das andere Mädchen“.

 Die französische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux (82).

Die französische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux (82).

Foto: dpa/Michel Euler

Annie ist zehn, als sie mitkriegt, dass sie eine ältere Schwester hatte. Vor dem Laden der Eltern in Yvetot hört sie, wie die Mutter sich mit einer Kundin unterhält und dieser von dem Mädchen erzählt, das mit sechs Jahren an Diphterie gestorben ist. „Sie war viel lieber als die da“, sagt die Mutter, und mit „die da“ meint sie Annie, die währenddessen kaum zu atmen wagt, zu Boden schaut und weiter tanzt, als würde sie die Worte nicht verstehen. Von einem Moment auf den anderen aber verändert sich ihr Platz in der Welt. Es ist eine Kränkung sondergleichen. „Ich, die Unvergleichliche, das Einzelkind, werde verglichen.“ Zwischen ihr und den Eltern steht von nun an die gut zwei Jahre vor Annies Geburt verstorbene Schwester.

Mit eindringlichen Bildern wie diesem spürt die 1940 in der Normandie geborene Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“ ihrer toten Schwester nach, die in ihrer kindlichen Fantasie fast schon den Status einer Heiligen einnahm. Nie wurde zu Hause über sie gesprochen. Weder Vater noch Mutter erwähnten je ihren Namen. Erst von einer Cousine erfährt Annie später, dass sie Ginette hieß.

Als sie selbst schon eine berühmte Schriftstellerin und um die 70 ist, fängt Annie Ernaux an, der Toten einen „unechten“ Brief zu schreiben, „echte Briefe schreibt man nur an Lebende“, heißt es in dem Buch der 82-jährigen Literaturnobelpreisträgerin, das in Frankreich schon 2011 erschienen und jetzt endlich auf Deutsch herausgekommen ist.

Immer wieder hat Annie Ernaux in ihren schwebenden Büchern über Tabus geschrieben. Über Vergewaltigung („Erinnerung eines Mädchens“, 2016), Abtreibung („Das Ereignis“, 2000) und zuletzt über die Liebe zu einem fast 30 Jahre jüngeren Mann („Le Jeune Homme“, 2022). Immer sprachlich präzise und ehrlich ohne jede Selbstschonung. Das macht sie zu einem Vorbild mancher jüngeren Frau und zu einer Leitfigur der „Me Too“-Bewegung.

Auch in ihrem bewegenden Brief an ihre Schwester spürt sie den Ursachen für ihre Verunsicherung nach und zeichnet ein Psychogramm ihres Selbst. „Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt“, ist da zu lesen, und Stolz und Schuld vermischen sich in diesen Worten miteinander.

Mit welcher sprachlichen Klarheit sie ihre Gefühle benennt, ist ebenso exzellent wie die Übersetzung von Sonja Finck, die den Zauber von Annie Ernaux‘ Sprache bewahrt hat. Wer die aktuelle Nobelpreisträgerin kennenlernen will, für den eignet sich „Das andere Mädchen“ gut als Einstieg. So wie auch jedes andere ihrer 20 Bücher.

Info Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“. Suhrkamp, 80 Seiten, 18 Euro

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