Skulpturen von Anish Kapoor in Wuppertal „Die Dinge sind nicht unschuldig“
Wuppertal · Tony Cragg hat seinen Kollegen Anish Kapoor in den Skulpturenpark Waldfrieden nach Wuppertal eingeladen. Die wuchtigen Werke des gebürtigen Inders schockieren und faszinieren die Betrachter.
Am Donnerstag begegneten sich zwei Künstler in Wuppertal, die zu den wichtigsten Bildhauern der Welt gehören. Tony Cragg und Anish Kapoor waren per Live-Schaltung in der großen Halle im Skulpturenpark Waldfrieden miteinander verbunden. Der eine lächelte vom Bildschirm, der andere stand fast bescheiden vor dem Beamer, das Mikrofon in der Hand. Der gebürtige Inder und der gebürtige Brite kennen sich seit 40 Jahren. Beide sind Turner-Preisträger und Inhaber des Praemium Imperiale – und sie sind Freunde. Nur so war es möglich, dass Anish Kapoor seine allerneuesten Werke nicht in einem berühmten Museum, sondern im privat geführten Skulpturenpark Waldfrieden ausstellte.
Anish Kapoor, der in London und Venedig lebt, gilt als Meister des Erhabenen. Normalerweise spielt er mit spiegelnden Körpern, mit Leere und Fülle, mit den Erfahrungen von Licht und Dunkelheit, mit den Farben Schwarz und Rot. Der Sohn einer jüdischen Irakerin und eines indischen Hindus ist längst Kosmopolit geworden, dessen individuelle Entdeckungen und Erfahrungen Staunen bei den Betrachtern auslösen. Doch diesmal kam es anders. Kurz nach Weihnachten erhielt Tony Cragg von seinem fünf Jahre jüngeren Kollegen einen Anruf für eine Ausstellung, auf die Cragg schon seit Jahrzehnten gewartet hatte. Doch Kapoors Auswahl irritiert. Der Künstler reagiert mit einer geradezu existenziellen Angst auf die Realität in der Gegenwart. Die Arbeiten sind nicht als Reaktion auf den Ukraine-Krieg entstanden, aber erst jetzt zeigt er sie in Deutschland. Den Auftakt macht „Robe“, ein hoch aufragender Faltenwurf von 2012. Ein barockes Motiv also, wären da nicht die aufgeplatzten Leinwandformen, die verschiedene Schichten von dicklichem Farbblut freigeben. Es ist, als werde die Haut eines fiktiven Körpers Schicht für Schicht enthüllt, um noch tiefer ins Innere zu schauen. Ins Auge springt die Installation „Treshold door“, „Schwellentür“ von 2019. Sie wirkt wie ein Sinnbild für all unsere Krankheiten, die weniger ästhetisches Vergnügen als Unbehagen erzeugen. In einem hölzernen Auffangbecken steht ein Tor, das nicht zu himmlischen Gefilden, sondern zu Blutlachen aus gefärbtem Kunstharz hüben und drüben führt. Unten am Beckenrand gibt es Schüttvorrichtungen, als müsse die farbige Masse abfließen. Ein Horror-Szenarium voller existenzieller Verweise.
Als Bildhauer liebt Kapoor tonnenschwere Stahlkonstruktionen. In diese Aufbauten wuchtet er seine menschlich-tierischen Gebilde. Sie bestehen aus Leinwand, die er zu Würsten knotet und mit einem weichen Innenleben versieht, während die Außenhaut an die Gedärme in einer Fleischfabrik erinnern. Bei „Shade“, „Schatten“, von 2016 stabilisiert er den Fleischklotz aus Silikon und Fiberglas, indem er ihn durch eine stabile Draht-Gaze schützt. In der lichtdurchfluteten Glashalle inmitten des Skulpturenparks ergibt sich auf diese Weise ein extremer Gegensatz zwischen der grünen, schönen Natur und dem Häufchen Elend im Innenraum.
Doch Kapoor ist ein guter Kurator. Er belässt die Besucher nicht im Jammertal, sondern sorgt für einen Hingucker auf dem Weg zur obersten Halle. Dort steht eine strahlend rote Form aus Stahl und PVC-Plane. Sie lockt nach oben. Es handelt sich um einen dunklen Kubus in den Maßen sieben mal sieben mal sieben Metern, der durch eine tonnenschwere Metallkonstruktion gehalten wird.
Ihre roten Planen wirken wie ein Riesenmund, aber sie geben auch den Blick ins Innere frei. Mehr als bei den Skulpturen in der Glashalle geht es im Freien um Licht und Dunkelheit, zugleich um den Komplementärkontrast zwischen Blutrot und Naturgrün. Entstanden ist eine Hülle, in die drei Schalltrichter fürs Licht zwischen drinnen und draußen vermitteln. Der Besucher darf die Konstruktion der übereinander geschobenen Planen bewundern. Je nach Jahreszeit wird er von den Sonnenstrahlen erstaunt oder hinter das dämmrige Licht der Wintersonne geführt.

11.08.2022, Nordrhein-Westfalen, Wuppertal: Besucher stehen im Skulpturenpark Waldfrieden vor der Großskulptur ·Sectional Body preparing for Monadic Singularity· (2015) von Anis Kapoor. Der Skulpturenpark zeigt vom 13. August bis 01. Januar 2023 Werke von Kapoor. Foto: Marius Becker/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: dpa/Marius BeckerTony Cragg gibt einen Einblick in die Geschichte der Skulptur auf internationalem Niveau. Er macht zugleich deutlich, dass jeder Künstler immer auch politisch agiert, was nichts mit dem plumpen Agitatoren auf der Documenta zu tun habe. „Künstler achten auf eine Werteskala, die mit der Ästhetik der Kunst gleichzusetzen ist“, so Tony Cragg. Und sein Kollege ergänzt vom Bildschirm aus: „Die Dinge sind nicht unschuldig, und wir auch nicht“.