Theaterpremiere Der Mönch und sein Opfer

Recklinghausen · Ivo van Hove inszeniert den Roman „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen.

 Szene aus „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen.

Szene aus „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen.

Foto: Jan Versweyveld

Seit seinem Erscheinen 2015 sorgt der Roman „Ein wenig Leben“ weltweit für Aufsehen. In dem 700-Seiten-Buch erzählt die amerikanische Autorin Hanya Yanagihara die Geschichte einer Freundschaft von vier Männern, der man über einen Zeitraum von 30 Jahren folgt. Der Anwalt Jude, der Schauspieler Willem, der bildende Künstler JB und der Architekt Malcolm lernen sich zu Beginn ihres Studiums kennen und bleiben, während sie in New York Karriere machen, eng miteinander verbunden.

Diese Geschichte hat der Niederländer Ivo van Hove für die Bühne bearbeitet und  am Wochenende bei den Ruhrfestspielen präsentiert. Schon als Verdichtung eines gewaltigen Textkonvoluts ein Ereignis, war die Dramatisierung aber mehr noch aus einem anderen Grund mit Spannung erwartet worden. Denn im Zentrum der Männergruppe und der Geschichte steht Jude St. Francis, ein aufopfernd liebender, aber zugleich innerlich zerbrochener Mensch. Wie in ein schwarzes Loch werden die Freunde in Judes dunkle Welt hineingezogen, deren Ungeheuer nach und nach hervortreten: seine Erlebnisse sexuellen Missbrauchs. Wie bringt man diese Ungeheuerlichkeit auf die Bühne?

In Recklinghausen beginnt das Ganze in heiterer Atmosphäre. Es ist ein für New York typisches Ein-Raum-Apartment, in dem die vier noch jungen Männer bei leiser Musik von ihrem Leben träumen. Man brutzelt etwas auf dem Herd, in der Mitte steht ein Waschbecken und rechts ein Bett. Über die Seitenwände flimmert urbanes Straßenleben. Aus dieser entspannten Stimmung entwickelt sich langsam, beinahe unmerklich, eine Leidenshölle.

Ja, es fließt auch Blut, Judes Blut, weil er sich immer wieder ritzt. Körperlich seit langem versehrt, kämpft er (dargestellt von Ramsey Nasr) verzweifelt darum, nicht auch seelisch zum Krüppel zu werden. Doch um ihn lauern die Schatten seiner Vergangenheit, vor allem der Mönch Luke. Er war es, der das Findelkind Jude in seinem Kloster aufnahm und dort zunächst seinen Mitbrüdern, dann anderen zahlenden Männern zum Missbrauch darbot.

Ivo van Hove und seinen hervorragenden Darstellern gelingt es, die Romanhandlung in ein abendfüllendes, sehr tief unter die Haut gehendes Bühnendrama zu verwandeln. „Katharsis“ nannte Aristoteles die seelische Reinigung als Wirkung einer antiken Tragödie. Wenn die Zuschauer nach über vier Stunden, ganz offensichtlich überwältigt, zum Applaus ansetzen, haben sie eine moderne Tragödie erlebt.

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