Düsseldorf Theater testet soziale Wirklichkeit

Düsseldorf · Soziologe Dirk Baecker fragt nach der gesellschaftlichen Funktion von Theater.

Natürlich sind Theater nicht nur Musentempel. Wenn sich Menschen vor einer Bühne versammeln, anderen beim Spielen zusehen – beim Erzeugen einer Wirklichkeit – und sich hinterher beflügelt oder empört über das Erlebte unterhalten, dann ist das ein gesellschaftlicher Prozess. Also auch Sache für Soziologen.

Die finden dann Beschreibungen für das Theater, die sich abheben von kurzatmigen Debatten über Regietheater oder Sparzwänge, weil sie die gesellschaftliche Funktion von Theater in den Blick nehmen. Die besteht zum einen darin, die Wirklichkeit zu repräsentieren, also die politischen, wirtschaftlichen, sozialen Verhältnisse auf die Bühne zu holen. Andererseits folgen Theatermacher den autonomen Gesetzen ihrer Kunst, suchen nach neuen Formen, sprengen etablierte Muster und Routinen. Das Theater steht also immer in der Spannung zwischen Repräsentation und Autonomie, ist Ort gesellschaftlicher Selbstreflexion und der freien Kunst. Mancher Streit über die ein oder andere Inszenierung lässt sich auf diese Spannung zurückführen, darauf, wie viel künstlerischen Freiraum ein Zuschauer dem Theater zugesteht und wie viel Auseinandersetzung mit seiner Lebenswirklichkeit er erwartet.

In seinem neuen Buch "Wozu Theater?" hat der Soziologe Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie in Friedrichshafen, Aufsätze versammelt, in denen er abstrakt zu beschreiben versucht, was Theater ist und wozu es in der Gesellschaft gebraucht wird. "Das Theater ist eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen", schreibt er darin. Der Zuschauer sei gefordert, sich anzuschauen, anzuhören und auszuhalten, was auf der Bühne passiert, seine Neugier und sein Urteilsvermögen würden mobilisiert. Unabhängig von Stück und Inszenierung beobachtet der Zuschauer im Theater, wie soziale Beziehungen entstehen, was sie aushalten, und wie der Einzelne von seinem Umfeld geformt wird. So regt das Bühnengeschehen an, über das eigene Leben nachzudenken und über den Zustand der Gesellschaft. Darum führt Baecker aus, wie wichtig es ist, dass Theater politisch wie wirtschaftlich unabhängig sind. Sie sind Instanzen kritischer Überwachung der Gegenwart, dürfen darum keinem "Machtkalkül" unterworfen werden.

Baecker ist ein Schüler Niklas Luhmanns, beschreibt das Theater auch mit systemtheoretischem Vokabular. Doch legt er sich keineswegs fest auf moderne oder postmoderne Positionen, betrachtet diese Ansätze vielmehr gelassen als Etappen auf dem langen Weg ästhetischer Entwicklung. Dann muss auch niemand fürchten, dass das Theater mit der postmodernen Auflösung von Stücken und Strukturen an ein Ende gekommen wäre. Selbst wer sich weigert, auf der Bühne eine Geschichte zu erzählen, so Baecker, erzählt am Ende eben diese Geschichte. Das Theater diktiert seine Gesetze, es ist stärker als jede Mode.

Dirk Baecker: "Wozu Theater?", Theater der Zeit, 204 Seiten, 18 Euro

(RP)
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