Volker Lösch Theater in einer gespaltenen Stadt

In Essen inszeniert der Regisseur das Märchen "Der Prinz und der Bettelknabe" mit Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Schichten.

Essen Essen ist eine geteilte Stadt. Die A 40, der "Sozialäquator", trennt den wohlhabenden Süden von Vierteln im Norden, in denen jeder Dritte soziale Leistungen bezieht. In dieser Stadt inszeniert der Theatermacher Volker Lösch Mark Twains Märchen vom Prinzen und dem Bettelknaben, die für kurze Zeit die Rollen tauschen. Lösch hat arme Jugendliche aus dem Norden und Teenager aus gehobenen Mittelklassefamilien aus dem Süden zusammengebracht, zahlreiche Interviews mit Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern geführt und mit Dramaturgin Christine Lang eine neue Version des Märchens geschrieben.

Die Geschichte vom Rollentausch des Prinzen und des Bettelknaben ist eigentlich ziemlich kitschig.

Lösch So versöhnlich wie Mark Twain sie enden lässt, schon. Uns hat aber die soziale Gespaltenheit der Stadt Essen interessiert, dieser wirklich großzügige Lebensstandard im grünen Süden mit dem Baldeneysee und das komplett Andere, Aufgegebene im Norden. Bei Twain tauschen der Prinz und der Bettelknabe aus Neugier die Rollen. Bei uns haben die Jugendlichen aus dem Norden den Süden kennen gelernt und umgekehrt. Der König ist im Stück ein Konzernchef - in Essen liegt es nahe, einen bekannten Discounter in den Blick zu nehmen. Auch weil dort ein Milliardenvermögen angehäuft wurde mit der Geschäftsidee, Essen für Arme anzubieten. Twain erzählt eigentlich ein sozialdemokratisches Märchen: Der König wird ein besserer König, weil er Armut versteht. Und die Armen denken weniger an Revolte, weil sie kapieren, wie schwer es ist, reich zu sein. Man könnte auch sagen, es ist die passende Erzählung zur lähmenden großen Koalition, die sich in Deutschland wieder anbahnt. Aber wir lassen die Geschichte anders enden.

Das Thema Gerechtigkeit hat den Sozialdemokraten auch nicht geholfen, die Wahl zu gewinnen.

Lösch Das Thema Gerechtigkeit war zunächst richtig gesetzt. Aber die SPD hätte dem Taten folgen lassen müssen. Sie hätte sich von der Agenda 2010 distanzieren, Altkanzler Schröder vom Sockel stürzen müssen. Sie hätte zugeben müssen, dass sie mit den Reformen falsche Dynamiken in Gang gesetzt hat. Aber das hat die Partei nicht getan. So bleiben alle Beschwörungen von mehr Gerechtigkeit Floskeln.

Sie glauben nicht an die große Neuaufstellung der SPD?

Lösch Nein, die Partei löst sich eher auf. Die Marginalisierung der großen Parteien ist ja eh ein Trend. Vielleicht gibt es in Deutschland bald vier bis sechs gleichstarke Parteien. Auch, weil die Linke es gerade nicht schafft, ihre Positionen geschlossen zu vertreten. Das Potenzial für linke Politik in Deutschland ist viel größer als die Wahlergebnisse der SPD und Linken vermuten lassen.

Es gibt ein Potenzial an Unzufriedenheit, das allerdings auch von rechten Parteien abgeschöpft wird.

Lösch Genau. Wenn diejenigen, die den Anspruch haben, Volkspartei zu sein, sich nicht um die wachsende Ungleichheit kümmern, haben die Rechten leichtes Spiel. Die Leute merken nicht, dass die eigentlich neoliberale Standpunkte vertreten. Genau wie Trump. Dessen Politik wird den Benachteiligten im Rustbelt auch nichts nützen, aber das merken die Betroffenen noch nicht.

Haben die Menschen im armen Essener Norden, mit denen Sie gesprochen haben, denn eine Idee, warum es ihnen schlecht geht?

Lösch Kaum. Ihr Tag ist angefüllt damit, ein Leben ohne Geld zu organisieren, mit drei, vier Euro am Tag die Kinder zu ernähren. Das endet bei vielen Mitte des Monats bei Nudeln mit Margarine. Da bleibt kein Interesse, sich mit politischen Themen zu beschäftigen. Die Leute haben auch genug von Versprechungen. Die meisten, mit denen wir gesprochen haben, wählen nicht mal rechts, die wählen gar nicht. Sie haben einfach das Gefühl, dass sie eh nicht mehr rauskommen aus ihrer sozialen Lage. Und die Statistiken geben ihnen ja auch recht. Die Durchlässigkeit in Deutschland ist skandalös gering. Die Milieus verfestigen sich.

Und wie haben die Jugendlichen reagiert, als Sie sie zu Grenzgängern in der eigenen Stadt gemacht haben?

Lösch Überraschenderweise kannten sie die Lebensräume der jeweils anderen kaum. Als sie sich aus Interviews, die wir mit ihnen geführt haben, gegenseitig vorgelesen haben, waren viele überrascht und berührt: die Unterschiede sind riesig. Wir sind mit allen Jugendlichen erstmal in den Norden gefahren. Da gibt es vor allem Spielhallen, Wettbüros, Dönerbuden und viel Leerstand. Und im Süden kommen gleich Securityleute auf die Straße, wenn man langsam an den Villen vorbeirollt. Die Abschottung ist erst unsichtbar, aber dann wird sie greifbar.

Ist denn Bildung als Mittel für den sozialen Aufstieg in den benachteiligten Familien ein Thema?

Lösch Das ist ja das große Missverständnis! Chancengleichheit, das unterschreiben alle Parteien von links bis zur AfD. Alle wollen mehr Geld in Bildung stecken, Kitas verpflichtend machen. Das muss einen ja misstrauisch machen! Denn Chancengleichheit bedeutet ja nur, dass mehr Leute am Wettrennen um Platz eins teilnehmen können. Das ändert aber nichts am Konkurrenzdenken. Es ändert nichts daran, dass es weiter Sieger und Verlierer geben soll. Wir wollen einen Schritt weiter gehen. Wir formulieren auch Visionen.

Die werden ja in der Politik gerade so vermisst. Welche Ideen skizzieren Sie denn?

Lösch Wir sprechen zum Beispiel über Modelle der Umverteilung. Das ruft immer massive Gegenwehr hervor. Aber ich verweise dann gern auf den Linksradikalen Helmut Kohl, unter dem es durchaus eine Vermögensteuer und einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent gegeben hat. Das haben seine Nachfolger abgeschafft, sehr viel Geld ist daraufhin von unten nach oben verteilt worden. Wir denken, dass es an der Zeit ist, das wieder umzukehren.

DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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