Berlin Theater-Eminenz Ivan Nagel ist tot

Berlin · Er ist durch die Kulturen gewandert, hat in Ungarn, der Schweiz, Frankreich, Deutschland gelebt, sich die Sprachkenntnisse im Theater erarbeitet, sich vollgesogen mit Bildung. Nur so konnte Ivan Nagel wohl dieses einschüchternd untrügliche Gespür entwickeln, mit dem er auf der Bühne Können von Scharlatanerie unterschied.

Das hat er aus unterschiedlicher Warte getan, als Kritiker, Wissenschaftler, Intendant. Von 1972 bis 1979 leitet er das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, später das Staatsschauspiel Stuttgart. Nach Hamburg holte er Schauspieler wie Barbara Sukowa, Will Quadflieg, Ulrich Wildgruber, Regisseure wie Zadek. Er galt als radikaler Linker, wegen seiner Stückeauswahl und weil er sein Theater kooperativ leitete, obwohl das doch nur echte Autoritäten können. Dann wieder arbeitete Nagel als Kritiker für die "Süddeutsche Zeitung", ging als Kulturkorrespondent für die FAZ nach New York. Er war ungemein vielseitig, doch noch beeindruckender bleibt, mit welcher Unbeirrtheit, welcher gelassenen Großzügigkeit er radikale Künstler wie Peymann, Castorf, Einar Schleef, Neuerer der internationalen Szene wie Peter Brook, Robert Wilson oder Peter Sellars förderte. Nagel wusste, dass Theater sich nie mit dem Bewährten zufrieden geben darf, dass Kunst irritieren muss, um der Tranigkeit zu entkommen, und er hatte die Größe, den notwendigen Affront zu wagen. Gegen deutsche Piefigkeit gründete er Festivals wie "Theater der Welt" und wurde doch irgendwann "Graue Eminenz" genannt, als sei irgendetwas an diesem glänzenden Denker farblos gewesen.

Nagel wurde 1931 als Sohn gebildeter Juden in Budapest geboren. Seine Eltern waren Textilfabrikanten und gehörten zum Großbürgertum. Der Verfolgung durch die Nazis entging die Familie, indem sie sich unter falschem Namen in einem Budapester Kinderheim versteckte. Als 1948 die Kommunisten an die Macht kamen, wurde dem "Kapitalistensohn" das Studium verweigert. Er floh nach Zürich, studierte in Paris, Heidelberg und Frankfurt. Nagel gehörte zum engen Kreis um Theodor W. Adorno, war aber Intellektueller genug, sich in Heidelberg mit Carl Schmitt auseinanderzusetzen und das "abstoßend und aufregend, einen schönen Ruck" zu nennen.

Trotz seines so reichen Lebens hat Nagel keine Autobiografie verfasst. Lieber schritt er seine Zeit anhand von Inszenierungen ab, verfasste hellsichtige Essays über große Dramen, bedeutende Regisseure, suchte in Goyas Doppelbild "Die Nackte und Bekleidete Maja" nach dem Beginn der Moderne oder in der Historienmalerei ab 1300 theaterhaften Inszenierung. Sein Stil ist elegant, weil er klar ist. Und diese Klarheit erreicht nur, wer sich den Blick von Moden nicht trüben lässt, hart ist in seinem Urteil und doch kindlich unbefangen bleibt.

Im Radio konnte man zuletzt noch lange Gespräche mit Ivan Nagel erleben, in denen er – gestochen formuliert, weich gesprochen – durch sein Leben flanierte. Man konnte da bereits traurig werden darüber, dass ein solcher Denkreichtum mit einem Menschen erlöschen kann. Zum Glück hat Ivan Nagel geschrieben, über Theater und Musik, über Mozart, Shakespeare und das Leben. Man kann Nagel in diesen Texten begegnen. Wahrscheinlich hätte ihn diese Art des Gedenkens gefreut. Am Ostermontag ist Ivan Nagel im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben.

(RP)
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