Dirigentin mit Weltkarriere Einsatz in Manhattan
New York · Die finnische Dirigentin Susanna Mälkki ist einer der begehrtesten Pultstars von heute. 2024 könnte sie Chefin der New Yorker Philharmoniker werden.
Ein Mann verlässt die Zivilisation. In Toronto steigt er in einen Zug Richtung Norden, es wird kalt und einsam werden. Auf die Reise geschickt hat ihn der Pianist Glenn Gould, der im Nebenberuf Hörspiele und Filme wie diesen komponierte: „The Idea of North“. Am Ende bleibt die Lok stehen, der Mann muss zu Fuß über vereiste Schienen weiter. Auch die Filmmusik verstummt nach vielen Staustufen in einem barschen Es-Dur-Akkord. Dies ist das Finale der 5. Symphonie Es-Dur von Jean Sibelius. Von ihr sagte Gould, sie sei lebensnotwendig für ihn.
Eine Frau kommt aus der Kälte nach New York, es ist die finnische Dirigentin Susanna Mälkki. Sie bringt die Ideen des Nordens zurück– und zwar in einen legendären Konzertsaal, die Carnegie Hall. Wir lauschen zeitversetzt um 2 Uhr nachts per Livestream im Internetradio. Mälkki führt jenes Meisterwerk Sibelius‘ auf, die Fünfte. Sie gibt der Grandezza der Musik eine zweite Dimension. Sie durchleuchtet die Partitur.
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Zwar trachten die New Yorker Philharmoniker hörbar danach, die hymnische Großartigkeit der Musik in Szene zu setzen, und in den langsamen Partien wollen sie die Melodien am liebsten still wie Seerosen auf der Musik treiben lassen. Doch Mälkki lässt ihnen das nicht durchgehen. Für sie ist Sibelius ein modern denkender Gigant, der in Struktur und Klang oft vom Highway abbiegt und eigene Wege geht. In New York wirkt die Fünfte nicht wie von schwerem Gerät bearbeitet, sondern leicht, nervös, dynamisch. Selbst die verlockende Schiffschaukel-Melodik des Finales, die pompös und gemütlich zugleich wirkt, walzt sie nicht aus. Dieser Sibelius leuchtet von innen, und mitunter ist es ein flackerndes Licht, wenn der Komponist den Strom aus dem Klanggeschehen nimmt und es kleinzellig wuchern lässt.
Seit 2015 kennt Mälkki das Orchester; immer wieder wurde sie eingeladen, fraglos eine Auszeichnung. Mittlerweile hat sie nicht nur alle „Big Five“ in den USA dirigiert, also die Weltklasseorchester in Boston, Chicago, Cleveland, Philadelphia und New York, sondern auch die bedeutendsten Ensembles Europas und hat sich zur wichtigsten Diplomatin des musikalischen Finnland entwickelt. In Fachkreisen hat sie den Ruf, Partituren so genau zu kennen, als habe sie die Werke selbst komponiert. Dieses Image, das auf eine fast radiologische Expertise schließen und manchen eine Neigung zum Kühlen, Schreibtischhaften befürchten lässt, kommt nicht von ungefähr. Über viele Jahre leitete sie als Nachfolgerin von Pierre Boulez das Ensemble Intercontemporain in Paris. In vielen Gesprächen mit dem prominenten Kollegen habe sie eines seiner wichtigsten Gebote verinnerlicht, nämlich Musik von heute auch als Schlüssel für alle früheren Jahrhunderte zu begreifen.
Die Ideen der Komponisten verteidigen und trotzdem die Orchester herzlich für sich gewinnen – das kann gelingen, wenn man deren Sprache spricht. Wie fast alle finnischen Kollegen entstammt Mälkki nicht nur der berühmten Dirigierklasse von Jorma Panula an der Sibelius-Akademie in Helsinki, sie hat auch zuvor in einem Orchester eine Führungsstelle bekleidet. Von 1995 bis 1998 war Mälkki Solocellistin der Göteborger Symphoniker. Diese Zeit bedeutete für sie einen enormen Gewinn – sie war Mitglied einer Orchestergruppe und zugleich ihr Brückenkopf zum Dirigenten. Schon damals hatte sie das Dirigieren im Kopf, und ihr Instinkt und ihre Persönlichkeit waren so überzeugend, dass ihr Kollege Esa-Pekka Salonen bei einem Wettbewerb in Stockholm zu ihr sagte: „Das Dirigentenpodium ist wohl der richtige Platz für dich!“
Anfangs galt sie als Spezialistin für Neues, doch bis heute empfindet sie Partituren, deren Tinte beinahe noch trocknen muss, nie als Belästigung, sondern als geistiges Vergnügen. Die Dirigentin als Dolmetscherin moderner Musik – diese Leidenschaft verschwand nicht, als sie 2016 Chefin des Philharmonischen Orchesters Helsinki wurde. Im Gegenteil, es dürfte derzeit kaum einen bedeutenden Dirigenten geben, der dermaßen oft Werke der Gegenwart ins Programm nimmt.
In New York registriert man die Facetten von Dirigenten-Persönlichkeiten derzeit sehr genau, denn die New Yorker Philharmoniker brauchen für 2024 einen neuen Chef. Die „New York Times“ fand die Personalie Mälkki nun außerordentlich spannend (zumal die Finnin in Helsinki für 2023 gekündigt hat), lobte ihre weite Kompetenz und vergab ihr einen aussichtsreichen Kandidatenplatz. Mälkki wäre die erste Frau, die eines der „Big Five“ als Chefin übernähme. Nun, das Chef-Gen besitzt Susanna Mälkki eindeutig, und mehr und mehr wird sie ja auch für Klassiker gebucht, etwa Beethoven mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.
Die kommenden Wochen werden reiseintensiv. In Helsinki dirigiert sie demnächst Bruckners 8. Symphonie c-Moll. Zuvor geht es zum Concertgebouw Orchestra nach Amsterdam (mit Musik von John Adams und Charles Ives) und zu Bergs „Wozzeck“ an die Opéra Bastille in Paris. Am 30. Mai steht die Premiere von Strawinskys „The Rake’s Progress“ an der New Yorker Metropolitan Opera an. Ohne Zweifel, Mälkki ist ganz oben angekommen. Zu New York und den Philharmonikern gibt sie eine astreine Politikerinnen-Antwort: „Ich denke, das ist eine Frage, über die man sich sorgfältig Gedanken machen wird, wenn sie ansteht."
Abheben wird sie sowieso nicht. Die dienende Seite ihrer Arbeit kennt sie, seit sie als Mädchen in Helsinki erstmals ein Symphoniekonzert hörte. Jeder Chefdirigent, Generalmusikdirektor oder Maestro heißt in Finnland Kapellimestari. Auch Mälkki nennt sich gerne so: Kapellmeisterin. Klingt nach Tugenden, die auch im 21. Jahrhundert nicht veralten.