Düsseldorf Stradivari mit acht Zylindern

Düsseldorf · Tonhalle: Anne-Sophie Mutter und das Concertgebouw Orchestra Amsterdam unter Andris Nelson.

Kennst du eine Stradivari, kennst du längst nicht alle. Die eine singt, die andere dröhnt, die dritte schmeichelt, die vierte atmet Sandelholz, die nächste faucht - der Mythos Stradivari liegt in der Verschiedenheit. Sollte Frank Peter Zimmermann seine Lady Inchiquin dereinst wiederbekommen, würde man hören, wie fein, silbrig, singend sie tönt. Dieser Tage erlebte man in der Tonhalle die Holländerin Janine Jansen und ihre furiose Barrere von 1727, die im Tschaikowski-Konzert aparte Rauheit verströmte - wie sanft geschmirgelt, nicht geraspelt.

Will man die Lord Dunn Raven von 1710 beschreiben, auf der seit Jahren Anne-Sophie Mutter musiziert, so fällt einem für die Stradivari ein Terminus aus dem Motorenbau ein: Ihre Stradivari hat Hubraum. Aus acht imaginären Zylindern zaubert die Künstlerin eine gigantische Vielzahl von Sounds. Diese Violine röhrt, brummt, prunkt, wummert, nagelt. Und wenn Mutter ihren Bogen auf der tiefen G-Saite zum Martelé ansetzt, einer besonders wuchtigen Strichart, dann fühlt man sich an einen betagten Alfa Romeo erinnert, dessen Auspuffgeräusche auf der römischen Piazza Venezia Eindruck schinden.

So gerät denn Jean Sibelius' nordisch vereinsamtes Violinkonzert in d-moll in ein gewissermaßen südliches Klima. Überhaupt unternimmt Anne-Sophie Mutter in diesem Sonderkonzert in der Tonhalle (gesponsert vom Freundeskreis) alles, um dem introvertierten Werk Glanz und Effekt zu entlocken. Sie spielt ganze Passagen ohne Vibrato, fast gläsern, als tauche die Musik in einen finnischen See ab; dann wieder schindet sie ihr Instrument wie ein Pferd, das ein Mächtigkeitsspringen gewinnen soll.

Diese Demonstration von Möglichkeiten kombiniert Mutter mit einer Technik-Schau. Doppelgriffe, Triller, Flageoletts - Geigenkundige werden optimal bedient. Sibelius' Werk selbst zieht trotz solcher Oberflächenreize kühl am Hörer vorbei. Wir erleben, wie eine phänomenale Geigerin sich das Werk unterwirft, statt sich von ihm beseelen zu lassen. Jeder Moment ist Kalkül, sogar die auf feurig getrimmten Schluchzerrutscher auf dem Griffbrett. Das erzeugt Hitze im Moment, jedoch keine Wärme auf Dauer.

Dass der Abend doch den Rang einer Sensation einnimmt, liegt am Amsterdamer Concertgebouw Orchestra unter Andris Nelsons. Es wurde vor einigen Jahren von internationalen Musikkritikern zum besten Orchester der Welt gekürt. Seitdem fragt sich jeder, wie er eine solche Spitzenstellung hören kann. Antwort: Dieses Orchester ist extrem motiviert, und es beherbergt zahllose Stars. Trotzdem spielt jeder fürs Team und mehr noch fürs Werk. Im langsamen Satz der Symphonie Nr. 10 von Dmitri Schostakowitsch tönt der bravouröse Horn-Solist seine Melodien mit einem unfassbaren Gleichmut ab; jede Wiederholung gleicht der vorigen. Keine Spur von Interessantmacherei. Das ist für die Galerie eintönig, aber es entspricht genau der Partitur.

Nelsons deutet diese Zehnte von 1953 als Aufschrei eines Komponisten nach seiner Unterdrückung. Ob es als Triumphgeheul auf den toten Stalin, Schostakowitschs Peiniger, gemeint ist, wenn höhnische Klarinetten oder bleckende Hörner den Klang kontaminieren, sei dahingestellt. Jedenfalls atmet das Werk im ersten Satz heftig wie ein Mensch, dessen Lunge kollabiert. Wenn später die Tonfolge D-Es-C-H die Initialen des überlebenden Komponisten in die Partitur stanzt, dann holt Nelsons jede nur erdenkliche Reserve aus diesem Orchester. Doch nie gerät es in Not, es kann immer noch ein Schüppchen drauflegen. Riesiger Hubraum.

Und doch: Das Concertgebouw Orchestra Amsterdam klingt niemals brutal. Es klingt grandios, weil es seine Gewalt kontrolliert. Gewaltig ist hinterher allerdings der Jubel.

(RP)
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