Reportage „Auf unseren neuen Massenchor!“

Gotthilf Fischer ist 91 – und dirigiert noch immer Volkslieder. Zum Beispiel beim Seniorennachmittag in Lauda-Königshofen bei Würzburg.

 Gotthilf Fischer bei seinem Auftritt in Lauda-Königshofen mit Festwirt Hans-Peter Küffner (links) und dem Bürgermeister des Ortes, Thomas Maertens.

Gotthilf Fischer bei seinem Auftritt in Lauda-Königshofen mit Festwirt Hans-Peter Küffner (links) und dem Bürgermeister des Ortes, Thomas Maertens.

Foto: Sabine Holroyd

Die meisten haben das Stück Blechkuchen und den Pott Kaffee, die der Bürgermeister an diesem Tag spendiert, schon verputzt, als endlich der Ehrengast durch den geschmückten Saal geführt wird: Gotthilf Fischer. Er hat noch immer die füllige Föhnfrisur, auch die weichen rosigen Wangen. Leichtfüßig nimmt er die Stufen hinauf zur Bühne. Unten in der Festhalle des 15.000-Einwohner Städtchens Lauda-Königshofen nahe Würzburg sitzen an diesem Nachmittag mehr als 2000 Senioren an langen Biertischen. Sie haben ihre Rollatoren hier und dort geparkt und auf das Kommen und Gehen in der Halle geschaut, auf die Kellner in Trachten-Outfits, die über Köpfe hinweg bedienen, und in all dem Treiben sind die Blicke der Leute ein wenig müde geworden. Doch jetzt ist er ja da, der Gotthilf Fischer. Applaus brandet auf. Der berühmteste Chorleiter Deutschlands dreht und wendet sich, will allen sein Bühnenlächeln schenken.

91 Jahre ist er alt, der Schwabe, der mit seinen Fischer-Chören das deutsche Volkslied in aller Munde bringen wollte, doch man sieht ihm das Alter nicht an. Allein das scheint den Senioren im Saal Freude zu machen. Der da vorn hat dem Alter ein Schnippchen geschlagen, braucht keinen Stock, keinen Rollator, kein Hörgerät, steht einfach da wie früher im Fernsehen bei „Die Straße der Lieder“ und will endlich loslegen.

Und dann ist auch schon das „Schweizer Madl“ am Start und „Grüner Wein, der soll es sein“ und „Freut Euch des Lebens!“. Fischer hat ein Mikro in der Hand, damit markiert er den Takt wie der Major eines Spielmannszugs, dirigiert mit der freien Hand die Melodie. Allerdings kommt der Gesang vom Band und knallt in Zeltlautstärke aus den Lautsprechern neben der Bühne. So laut ist die Beschallung, dass schwer zu sagen ist, wie viele Menschen auf den Bänken eigentlich mitsingen. Egal. Fischer dirigiert das Playback. Zum Schlussakkord geht er sogar in die Knie, weitet die Arme, um den Leuten ein Crescendo zu entlocken, winkt dann zackig ab. Wieder brandet Applaus auf. „Auf unseren neuen Massenchor!“, ruft Fischer, und donnert noch ein „Hipp, Hipp, Hurra!“ hinterher. „Hurra!“, rufen die Leute in der Halle. Dann wieder Musik vom Band „Du, Du liegst mir am Herzen!“. Die vorn an der Bühne beginnen zu schunkeln. Fischer animiert sie mit weich schwingenden Bewegungen im Takt der Musik. „Ihr seid prima, wunderschön!“, ruft er am Ende dieses Musik-Blocks.

„Wir müssen etwas für das deutsche Volkslied tun, sonst geht es verloren“, hatte Fischer vor dem Auftritt gesagt. Da stand er allein am Eingang zu seiner Garderobe, sah zu, wie die Leute in die Halle strömten. Lächelte zufrieden. „Das ist doch toll, dass so viele kommen und sich freuen und so freundlich sind“, sagt er wie zu sich selbst. Ein junger Mann tritt auf ihn zu, er ist ein wenig ungepflegt und wirkt leicht verwirrt, erkennt den Gründer der Fischer-Chöre aber sofort und reicht ihm die Hand. Fischer erwidert den Händedruck herzlich, wünscht dem Mann ein gutes Konzert „und wenn’s Dir gefallen hat, sag hinterher, dass es schön war!“ Noch vor dem Auftritt wird Fischer mit dem Bürgermeister in einem Käfer-Cabrio winkend durch Lauda-Königshofen fahren, er wird mit Passanten sprechen und geduldig für Selfies posieren. Er ist jetzt im Auftrittsmodus, scheint unermüdlich.

Fischer hat ja auch noch immer eine Mission. Vielleicht ist sie sogar dringlicher als früher: deutsche Musik unter die Menschen zu bringen und das Volkslied am Leben zu erhalten. Fischer schätzt das Niederschwellige dieser Musik, jeder kann bei seinen Auftritten mitmachen. Heißt auch: Jeder kann sein Fan werden. Er selbst ist Autodidakt, stammt aus einer Handwerkerfamilie, in der viel Musik gemacht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Fischer seinen ersten Chor, gewann 1949 einen regionalen Wettbewerb, nahm weitere Gesangsvereine unter seine Obhut, formierte allmählich die Fischer-Chöre. Zeitweise zählten dazu mehr als 1000 Sänger. Fischer trat mit ihnen zum Abschluss der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 im Stadion auf, führte sie auf Welttourneen, sang für den Papst und US-Präsident Jimmy Carter. All das hat er dem Volkslied zu verdanken – und seiner Geschäftstüchtigkeit. Gerade erst hat ihm seine Aufnahme der Europahymne auf Youtube, Amazon und Spotify eine Goldene Schallplatte eingebracht. Auf der Rückseite seiner Autogrammkarte wirbt er für eine Massageliege. Volksverbundenheit kann sich auszahlen.

Und bekannt ist der Mann, der für einen Fernsehauftritt seinen Großchor auch mal in 20 Meter Höhe baumelnd dirigierte – im Engelskostüm, bis heute. „Gotthilf Fischer ist eine Rarität“, sagt eine Frau im hinteren Teil der Festhalle. Sie ist 78 und mit ihrer Tochter aus einem Nachbarort zum Seniorennachmittag gekommen – wegen Fischer. „Es ist doch schade, dass die Jugend keine Volkslieder mehr kennt“, sagt sie, „der Fischer hat immer gesagt: Jeder Mensch kann singen. Ich hab ihn immer gern gehört und am Fernsehen mitgesungen.“

An diesem Nachmittag muss die Frau allerdings noch auf Fischer warten. Erst tritt Roland Bless auf. Der war mal Schlagzeuger bei der Gruppe Pur, tourt inzwischen solo und singt jetzt sanfte Lieder mit deutschen Texten aus seinem Album „Sternenstaub“. Er lächelt gewinnend, erzählt nette Dinge zu seinen Texten, doch das Publikum will Fischer sehen. Und Lieder hören, die es kennt.

Also gibt’s „Die Rose vom Wörthersee“ und die „Rosamunde“ und obwohl das Playback alles schluckt, bewegen viele an den Tischen doch die Lippen und lassen sich nicht mehr vom Betrieb in der Halle absorbieren, sondern schauen zur Bühne auf den Mann, der das hier alles dirigiert.

Und dann ist Fischers Auftritt plötzlich vorbei. Musik aus. Abschiedsworte vom Wirt der Halle. Doch da geschieht es: Irgendjemand stimmt „Hoch auf dem gelben Wagen“ an. Und auf einmal singen die Menschen in der Halle, lassen ihre Stimmen erklingen ohne technische Verstärkung und singen immer lauter und wissen den Text. Da dreht Fischer sich noch einmal um. „Kommt, eins singe’ mer noch!“ ruft er. Und die Halle entscheidet sich für „So ein Tag, so wunderschön wie heute“.

Und das deutsche Volkslied zeigt, was es kann, wenn man es nur lässt.

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