Berlin Simon Rattle bastelt an seinem Vermächtnis

Berlin · Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bringt vor seinem Abschied 2018 etliche CDs auf den Markt.

Sobald Dirigenten ein Orchester übernehmen, müssen sie bereits an ihren Abschied denken. Eine Amtszeit umfasst in der Regel fünf bis acht Jahre, also die Dauer einer kleinen Ära, und weil jede Planung für die Aufführungen dieser Ära einige Jahre Vorlauf hat, ist der Dirigent rasch mit der Frage konfrontiert, mit welcher Sinfonie er im allerletzten Konzert von dannen ziehen wird. Beethoven? Mahler?

Simon Rattle wird es im Jahr 2018 genau 16 Jahre bei den Berliner Philharmonikern ausgehalten haben, das ist eine lange Zeit. Ob sie auch fruchtbar war, kann nicht abschließend beantwortet werden. Gewiss hat Rattle den Berlinern neues Repertoire erschlossen, er hat sie in die neue mediale Zukunft in ihrer "Digital Concert Hall" geführt, und es gab natürlich auch exzellente Platten. Aber die Würde und den Tiefsinn seines Vorgängers Claudio Abbados hat Rattle nie erreicht. Er war dann am besten, wenn er Klangfarben kitzeln (Ravel) oder romantische Vollbäder in die symphonische Badewanne einlassen konnte. Oder er legte dermaßen rasche Tempi vor, dass sich das Orchester fast durch die Decke katapultierte.

Dieses Gefühl hat man jetzt bei der Neuaufnahme der neun Beethoven-Symphonien. Man hört die Absicht und ist verstimmt. Rattle möchte im Quellwasser der Originalklang-Meister baden, doch auch Beethovens Buchstaben in Tempofragen gehorchen. Ihn interessieren die historischen Metronom-Angaben. Das ist vorderhand löblich. In der Hinterhand hört man die Ergebnisse allerdings mit Kopfschütteln: Oft klingt es maschinell. Das Musizieren hat nicht dieses innere Feuer, das die großen Beethoven-Interpreten René Leibowitz oder Hermann Scherchen erreichten, indem sie Widerstände brachen. Rattle braust durch bereits erobertes Gelände und wundert sich, wieso die Bäume längst abgeholzt sind.

Neu auf dem Gabentisch liegt auch die 3-CD-Box "The Sound of Simon Rattle" (Warner). Der Titel suggeriert, dass ein Dirigent einen eigenen Klang besitzen kann. Entschuldigung, aber wenn Rattle irgendetwas nicht besitzt, dann ist es ein eigener Klang. Alles tönt bei ihm irgendwie metallisch, lackiert, uneigentlich. Die Mahler-Adagios (eine ganze CD lang) ereifern sich dagegen in Polyphonie; alle Musiker sollen möglichst in jeder Sekunde mit ihrer Stimme präsent sein, was zu einer kuriosen Form von Überinformiertheit des Hörers führt. Unter der Last der Signale kollabiert das System der Rezeption, würde Adorno sagen - und zwar zu Recht.

Auf CD zwei und drei breitet Rattle mit den Berlinern eine allfällige Palette von "Rhythm & Colours" aus (Kompositionen von Holst, Debussy, Orff, Strawinsky, Bernstein, Satie). Die Stücke kennt man von zahllosen "Best of"-CDs. Wenn Rattle das braucht, bitte sehr. Die Welt braucht es bestimmt nicht.

(w.g.)
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