Siegfried Lenz Was uns die Deutschstunde lehrt

Frankfurt / Hamburg · Im Alter von 88 Jahren ist gestern der große Volksschriftsteller Siegfried Lenz in Hamburg gestorben.

Siegfried Lenz: Aus dem Leben des Schriftstellers
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Aus dem Leben des Schriftstellers Siegfried Lenz

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Der Literaturbetrieb mag keine Pausen. Und so wird kurz vor der weltgrößten Buchmesse zu Frankfurt noch gehämmert, geschraubt und gemacht. Selbst bei Hoffmann & Campe in Halle 4. Bis zum Stand des Hamburger Traditionsverlags scheint die Nachricht vom Tod seines erfolgreichsten und Deutschlands wahrscheinlich populärsten Schriftstellers nicht vorgedrungen zu sein - von Siegfried Lenz.

88 Jahre ist er alt geworden und so lange schon in unserem Gedächtnis gewesen, dass selbst Leser sich nicht mehr sicher waren, ob Lenz noch lebt, ob er mal den Nobelpreis bekommen oder mit Grass wieder für die Es-Pe-De getrommelt hat? So war Lenz immer: im Hintergrund und aufsehenerregend vor allem mit seinen Novellen und Romanen. Ein Erzähler aus Überzeugung. "Entscheidend bleibt die Arbeit des Schriftstellers in seiner Abgeschiedenheit und Einsamkeit", hat er uns im Interview gesagt. Und als "Banalität" verraten: "Schreiben ist ein sehr einsames Geschäft. Aber das nimmt man in Kauf, schließlich wird man zu dieser Arbeit nicht berufen wie ein Richter, sondern erklärt sich frei dazu, das zu sein, was man sein möchte."

Der Zeitungsredakteur Lenz wusste das spätestens seit 1951, seit seinem Debüt "Es waren Habichte in der Luft". 13 weitere Romane folgten, 14 Essaybände, über 30 Novellen und Erzählungen. Ein wenig Zahlenspielerei, vielleicht. Doch wer die Wortmacht von Lenz erahnen will, sollte einmal das Werk in Gänze und seine Wirkung bedenken: die inzwischen nur noch zu schätzende Gesamtauflage von über 25 Millionen Exemplaren sowie 32 hochkarätige Ehrungen und Preise. Der Nobelpreis findet sich übrigens nicht darunter.

Das Staunen darüber muss erlaubt sein, da Lenz erstens kein lauter und zweitens kein sonderlich fortschrittlicher Erzähler war. Der gebürtige Ostpreuße, dessen Lebens- und Literaturmittelpunkt Norddeutschland und seine raue Küste wurde, ist ein konventioneller Erzähler. Selbst gelegentliche Ausflüge ins Absurde untermauern dies. An Novellen wie "Landesbühne" muss darüber hinaus nicht weiter erinnert werden.

Das einfache Erzählen hat seine Bücher verständlich gemacht; emotional erlebbar wurde sie uns mit der Einbettung in eine literarisch vermittelte Heimat. Ob mit seinen masurischen Erzählungen aus "So zärtlich war Suleyken" von 1955 oder den vielen norddeutschen Geschichten - Lenz gewährte mit seiner Sprache, die nie Selbstzweck war, seiner Liebe zu Landschaft und Menschen jedem Leser eine Beheimatung. Dennoch geriet er nie in die Grauzone der Heimatschriftstellerei oder gar des Revanchismus. So unterstützte er die Ostpolitik Willy Brandts und reiste mit ihm 1970 zur Unterzeichnung der deutsch-polnischen Verträge nach Warschau. Dass Siegfried Lenz in einem ganz unverklärten Sinne als Volksautor gelten kann, ist den Rissen geschuldet, die durch die Lebensläufe seiner Figuren gehen. Lenz war bemüht, den bedrängten und auch gescheiterten Menschen zu zeigen - etwa in dem zu Recht zur Schullektüre gewordenen Roman "Brot und Spiele" von 1959 sowie in "Der Mann im Strom" oder auch "Die Auflehnung". Doch denunziert hat er keine seiner Figuren.

Auch nicht in seinem berühmtesten und international erfolgreichsten Roman, in "Die Deutschstunde", die sich der sogenannten Aufarbeitung von schuldhaften Verstrickungen in der Nazizeit widmet und mit ihrem Erscheinen 1968 glänzend in die Zeit der Studentenbewegung zu passen schien. Doch Siegfried Lenz ist auch dabei seinen eigenen Weg gegangen. Indem er eine Freundschaft und dann auch eine Familie in der Diktatur zerbrechen lässt.

Da ist Jens Ole Jepsen, der nördlichste Polizist Deutschlands, der in der Nazi-Zeit das Malverbot seines Freundes überwachen muss - des expressionistischen Malers Max Ludwig Nansen, hinter dem Emil Nolde sichtbar wird. Und schließlich ist da Siggi Jepsen, der die Kunst zu retten versucht und die ganze Geschichte zwischen Freiheit und Gehorsam später aufschreiben soll. In einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche scheitert er am Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht".

Was Lenz gelungen ist: In dem Schicksal eines gescheiterten jungen Mannes spiegelt er nicht nur die Nazi-Zeit, sondern erzählt die geistesgeschichtliche Fehlentwicklung, die viele aus dem Land der Dichter und Denker zu ungerechten Richtern und menschenverachtenden Henkern werden ließ. Das geht bis Kant zurück, der in seiner Metaphysik der Sitten die Pflicht zu einer Tugend erklärt. Und es setzt sich fort bei Schiller, der es als "Idealmoral" bezeichnete, wenn Pflicht aus persönlicher Neigung erfüllt wird. "Die Freuden der Pflicht" wird so zum Aufsatzthema der Deutschen.

Aber dann war es ausgerechnet Siegfried Lenz, dessen Name 2007 im Berliner Bundesarchiv auftauchte, in einer Mitgliedskartei der NSDAP - neben anderen Prominenten wie Dieter Hildebrandt und Martin Walser. Ob er wissentlich Mitglied der Partei war oder nicht, ist ungeklärt.

Zurück bleibt an diesem Tag die Erinnerung an die Begegnung mit Siegfried Lenz. Geruhsam Pfeife rauchend der Autor, natürlich. Sein Daumen schwarz vor Asche. Und seine in die Tabakwolke hineingesprochenen Worte, die er gelassen eine unerträglich schlichte Maxime nannte: "Weitermachen und sich nicht aufhalten lassen".

(RP)
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