Rainer Stelten Seine Kartoffeln sind ein Gedicht

Krefeld · Rainer Stelten ist Bauer und verkauft auf dem Wochenmarkt. Seine Kunden bedient er in Versform. Bei den Eiern heißt es dann "Braune für die gute Laune" oder "die Weißen zum Schmeißen". Ihm macht das Freude, den Kunden auch.

Rainer Stelten hat den grün-weiß-gestreiften Vorhang weit aufgeschoben, auch an den Seiten, denn an diesem Morgen scheint die Sonne schon warm. Im Morgengrauen hat er begonnen, seine elf Meter lange Bühne aufzubauen: Links die Eier, die weißen und die braunen, sauber gestapelt nach Größe und Güte, Bioeier, Freilandeier, Eier aus Bodenhaltung. Daneben liegen Laura, Cilena, Belana, Annabelle - Kartoffeln aus eigenem Anbau, ganz rechts die Zwiebeln. Robuste Waagen mit klobigen Gewichten stehen parat, in den Kartoffelbergen stecken kurze Schaufeln, grüne Plasitktüten baumeln an den schlanken Metallträgern, die das Dach von Steltens Marktwagen stützen. Und als nun die ersten Kunden an die Auslage treten, auf Laura deuten und vier Pfund bestellen, legt Stelten los: "Ob groß, ob klein / Kartoffeln soll'n es sein."

Er schüppt die Kartoffeln auf die Waage, wirft noch von Hand ein paar dazu, zieht mit geübten Griffen eine Tüte über die Waagschale, kippt die Bestellung hinein. "Noch 'ne Tüte/ ums Runterfallen zu verhüte?", fragt er und ein Lächeln spielt in sein Gesicht. Er trägt Strickmütze, grüne Arbeitskleidung, sieht nun doch ein wenig verfroren aus, so früh am Morgen auf ganz offener Bühne. Der Kunde, ein älterer Herr, reagiert nicht. Er hat Handyprobleme. Den Gehstock hat er vor den Kartoffeln quer gelegt, um besser auf dem Display herumtippen zu können. "Wie kann man denn einen neuen Kontakt speichern?", stößt er schließlich hervor. Das Handy wird über die Kartoffeln gereicht, getippt, gefachsimpelt, schon ist der Kontakt im Verzeichnis. "Hier helfen sie einem mit allem weiter", sagt der Mann und greift nach seinen Taschen.

Nebenan hat sich nun schon eine kurze Schlange gebildet. Ein alte Frau beugt sich tief über ihren Rollator, nestelst mit zittrigen Händen an einer Einkaufstasche. Sie hat eine leere Eierschachtel mitgebracht, einen schmalen Karton für genau zwei Eier. "Weiße bitte", sagt die Dame. "Die Weißen/ sind zum Schmeißen", erwidert Stelten, "doch dann ham se nix zu Beißen." Die anderen Frauen in der Schlange lachen. "Woher er das nur nimmt?", sagt die eine. "Ich bewundere das", sagt die andere. Als sie dran ist und Kartoffeln bestellt, dichtet Stelten: "Dann mach' ich für Sie heut' mal drei Pfund / dann jet et wieder rund." Die Frau lacht auf, verstaut ihre Einkäufe, reicht einen Schein hinüber. "Zwei und vier sind zehn / jetzt dürfen sie geh'n." Die Frau schließt das Portemonnaie. "Sagen sie mal, üben sie das abends, das Reimen?", fragt sie. "Nö, ich kann auch so rumschleimen", erwidert Stelten, grinst und geht ab - an den Eierstapeln wartet schon der nächste Kunde. "Groß oder klein / wie viele soll'n es sein?"

6000 Hühner hält Stelten daheim auf seinem Hof in Krefeld. "So kann ich sicher sein, dass meine Ware hier frisch ist", wird er später erzählen, als mal kurz Leerlauf ist und er schnell ein süßes Hörnchen verdrückt. Auf seine Produkte ist er stolz, auf seine Reimkunst angesprochen zu werden, macht ihn verlegen. Das habe sich halt so ergeben. "Ich habe die Reime einfach im Kopf", sagt er, "und die Leute mögen das, es macht ihnen gute Laune." Er selbst sei sowieso immer gut drauf. "Was nützt es denn, schlechte Laune zu schieben? Nö, da reim' ich, ihr Lieben."

Dichter Stelten (46) hat ein paar Standards. "Braune für die gute Laune" etwa oder "Die Weißen zum Schmeißen". Auch bei den Sprüchen zum Wechselgeld variiert er seine Klassiker: "Einsfünfundneunzig / der Eiermann freut sich" oder "20 Cent, der Euro rennt" oder "Stimmt genau/ gute Frau". Aber wenn es brummt am Stand, wenn seine Kartoffelberge schmelzen, und er mit flotten Griffen die Eierkartons befüllt, dann fliegen ihm die Verse zu. Dann reimt er manchmal sogar vor sich hin, während er in die Kartoffeln greift: "Bisschen dicker/ nicht so kleine Knicker."

Seine Kunden lieben die lyrischen Zugaben zu ihren Zwiebeln, Eiern, Kartoffeln. Sie lachen über die Verse, diese schelmischen Ausbrüche aus dem Alltagsdeutsch. Die meisten kommen seit Jahren an seinen Stand, kennen noch Steltens Vater und Großvater, die auch Bauern waren und auch auf dem Wochenmarkt verkauften. Das Reimen ist Rainer Steltens Spezialität, seine Nische. Bei ihm hat der Dialog mit dem Kunden Rhythmus und Witz und den unschuldigen Charme aller Stehgreifkunst. Auch wenn ihm nicht jeder Spruch glückt. Auch wenn manche Versuche in Zweizeilern enden wie "Wenn die Dollen / dat so wollen".

Bei Rainer Stelten am Stand ist Sprache lebendig, geschieht das Dichten live und wirkt so unverbildet und echt wie naive Malerei. Jedenfalls lächeln viele Kunden auf dem Marktplatz in Krefeld Bockum schon bevor sie den Stand erreichen, ihre Körbe abstellen und der Bauer seine Inszenierung beginnt. "Ich habe den Herrn Stelten noch nie schlecht gelaunt erlebt", sagt Regina Großer, die seit Jahren zu ihm auf den Markt kommt. Großer ist während des Krieges aus dem Osten geflohen. "Ich habe viel Furchtbares erlebt, darum bin ich eher ernst veranlagt", sagt sie, "aber ich schätze diese Begabung, die so vielen Menschen auf dem Markt Freude macht." Sie fischt nach dem Portemonnaie. "Sechs Euro dreißig", sagt Bauer Stelten, "heute sind wir fleißig."

(dok)
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