Sehr frei: Jazzer John Tchicai tot

Kopenhagen Man musste sein Saxofon lieben – wie er das warmherzige Solo in "To Alhaji Bai Konte" blies, als gemütliche, weit geschwungene Kurve, in welcher der fahrende Bläser kein bisschen Nektar verschüttete. Aber in diesem Evergreen, der zur Endlosschleife taugt, tauchten auch Irritationen auf, lustige Störungen, andere mogelten sich in sein Solo hinein, übermalten es, torpedierten es – und da ahnte man: Wir haben den Free Jazz doch noch nicht verloren.

John Tchicai, der wunderbare afro-dänische Saxofonist, war eine Edelfeder der Branche. Dabei hatte er gar nicht so viel komponiert, aber wer je ein Saxofon in Händen halten und bedienen wollte, kam um sein Lehrbuch "Advice to Improvisers" nicht herum. Mitgeschrieben hat er vor allem an der Jazz-Geschichte. Der 1936 in Kopenhagen geborene Sohn einer dänischen Mutter und eines kongolesischen Vaters war ein Tausendsassa, schon früh hatte er sich in den USA getummelt, und in der Historie des Free Jazz wird er als der einzige relevante Europäer in der New Yorker Szene der frühen 60er Jahre geführt.

Tchicai stand im Fluchtpunkt zweier Linien, die von Ornette Coleman und Lee Konitz ausgingen und sich in ihm trafen: dort die Ausrichtung an der Linearimprovisation im Team, hier die trockene, bisweilen sogar ausgekühlte Lyrik. Mit Don Cherry und Archie Shepp hatte Tchicai die New York Contemporary Five gegründet, die famose Truppe, deren Auftritte oft herzlichen Schlachten glichen. Noch mehr Großkopfeten kamen zusammen, als er mit John Coltrane beim legendären Album "Ascension" mitspielte – neben Pharoah Sanders, Archie Shepp, Freddie Hubbard, McCoy Tyner, Art Davis, Elvin Jones.

Zurück in Europa, galt Tchicai als Star ohne Allüren. Er liebte es, in netter kollegialer Gesellschaft zu musizieren – und obwohl die Tugenden des Free Jazz die beherzte Einrede und die mitunter exaltierte Tongebung sind, blieb Tchicai in Herz und Tat ein Melodiker. Besonders profitierte davon das New Jungle Orchestra, die großartige dänische Band um den Gitarristen Pierre Dørge. Tchicai blies ihr – mittlerweile vom Alt- aufs Tenor-Saxofon umgestiegen – unverwechselbaren Atem ein. Dørge verdankte Tchicais Weltläufigkeit und musikethnologischer Doppelbegabung sehr viel. Das wehmütig auf eine Gambia-Tournee zurückblickende Album "Brikama", vielleicht Dørges beste Platte, hätte ohne Tchicai nie entstehen können – und jenes "To Alhaji Bai Konte" ist seine klingende Visitenkarte auf sozusagen handgeschöpftem Büttenpapier.

Für diese Freundschaft hat sich Dørge später, auf der CD "Giraf", mit dem "Lullaby für Tchicai" bedankt, einem köstlichen Betthupferl für den langjährigen Saxofonisten. Das Schlafmittel ist aber mit Ironie versetzt. Da spielt ein Cellosolo mit groteskem Free Jazz gegen Cha-Cha-Muster an, dass man staunt über die alte neue Wildheit der Dänen.

Jetzt ist John Tchicai, der seit einer Hirnblutung im Juni im Koma lag, im Alter von 76 Jahren gestorben. Als wir das hörten, haben wir zuerst "To Alhaji Bai Konte" aufgelegt, und da war der große Meister gleich wieder bei uns – warmherzig und beinahe ergebnisoffen. Sein Herz schlug wie immer sehr frei.

(RP)
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