Sehnsucht nach Bullerbü

Vor 60 Jahren erschien das berühmte Kinderbuch in Deutschland. Astrid Lindgren zeichnet darin das Bild einer idealen Kindheit. Bullerbü ist zum Synonym für das Paradies geworden.

In einem Interview hat sich Astrid Lindgren einmal an den Sommer erinnert, als sie 13 war. Eine Freundin sei damals zu Besuch gekommen. Die beiden kannten einander seit Jahren, und Lindgren hatte sich sehr auf das Mädchen gefreut. Doch als es endlich da war, wussten sie nichts miteinander anzufangen. Sie hatten etwas verloren, eine Gabe war ihnen abhandengekommen. "Wir merkten, dass wir nicht mehr spielen konnten", sagte Lindgren. "Es war schrecklich."

Lindgren (1907-2002) trauerte ihr ganzes Leben lang der verlorenen Zeit hinterher. Aber sie mochte nicht akzeptieren, dass die Tore zugestoßen waren. Also schrieb sie sich in ihren Büchern, in den frühen zumal, so nah wie möglich an die Kindheit heran. Vor 60 Jahren wurde eines ihrer schönsten Werke ins Deutsche übertragen. Darin ist sie jener Zeit am nächsten gekommen, die vor dem Augenblick liegt, da man sich seiner selbst bewusst wird und begreift, dass man seinen Platz in der Welt nun finden muss. Das Buch heißt "Wir Kinder aus Bullerbü", und der Ort, an dem seine Geschichten spielen, gehört zu den großen Sehnsuchtslandschaften. Er liegt auf der imaginären Karte der Weltliteratur gleich neben Marcel Prousts Combray und dem magischen Gondal der Geschwister Brontë.

Bullerbü ist das Paradies der unbeschwerten Kindheit. Ein Symbol für Freiheit. Wie stark wir uns von diesem Platz angezogen fühlen, zeigt die Tatsache, dass wir Kindergärten danach benennen und Orte scherzhaft als Bullerbü bezeichnen, an denen man nicht im Komparativ leben und stets kreativer, findiger und risikobereiter sein muss als die Konkurrenz. Es fährt kein Zug nach Bullerbü. Gäbe es einen, würde wohl der gesamte Prenzlauer Berg einsteigen und auswandern.

Auf "Wir Kinder aus Bullerbü" folgten die Bände "Mehr von uns Kindern aus Bullerbü" und "Immer lustig in Bullerbü". Astrid Lindgren hat in diesen Büchern das schwedische Dorf Sevedstorp beschrieben, das in der Nähe von Vimmerby liegt. Die Familie ihres Vaters stammte von dort, und wenn man die Augen schließt und an ungeteerte Schotterwege denkt, an den Duft von Pfirsich- und Apfelbäumen, sich einen See vorstellt, der von Schilf und Nadelbäumen eingefasst wird, ahnt man, wie es dort gewesen sein mag. "Mir tun alle leid, die nicht in Bullerbü wohnen", sagt das Mädchen Lisa in Lindgrens Buch.

Lisa ist die Ich-Erzählerin, und das ist der geniale Kniff Lindgrens. Die Autorin betreibt keine sentimentale Geschichtsschreibung, sie zieht ihre Episoden nicht aus der Zuckerwatte der Erinnerung, sondern lässt Kindheit aus der Kindheit heraus erzählen. Dadurch ergibt sich der besondere Realismus dieser Texte. Lisa berichtet mit vorurteilsfreier Aufmerksamkeit, und man muss nur mal die ersten Sätze der Bullerbü-Geschichten lesen: "Ich finde, mit keinem lässt es sich so gut spielen wie mit Inga." "Schließlich wurde es uns über, im Heu zu spielen." "Am nächsten Tag verschwanden wir gleich nach dem Frühstück." Darin steckt so viel Arglosigkeit. Lisa lebt mit rührender Selbstverständlichkeit im Paradies.

Sie ist die Schwester von Lasse und Bosse, deren Familie im blutrot gestrichenen Mittelhof lebt. Britta und Inga wohnen im Nordhof, Ole und die kleine Kerstin im Südhof. Sie spielen miteinander im Heu, krabbeln aus dem Fenster in einen Baum und von dort in das Fenster der Freunde. Sie ziehen Rüben, suchen Schätze und transportieren Zettel mit geheimen Botschaften in Körben an einer Leine von Fenster zu Fenster. Den Schulweg gehen sie gemeinsam, er führt durch pittoreske Wildnis, und nirgendwo ist man weiter weg von Vokabeln wie Klingelton und Mailaccount. Die Mahnungen der Erwachsenen sind bloß Hintergrundrauschen. Eltern, Lehrer, Knechte, Mägde und der Großvater bilden die menschliche Burgmauer, die Geborgenheit und Unversehrtheit sichern. Es gibt das Böse nicht in Bullerbü. Und obwohl Astrid Lindgren in dieser Utopie die Welt idealisiert, zeichnet sie kein verfälschendes Bild der Kinderseele. Unartigkeiten kommen vor, Streiche und Bestrafungen. Aber Lindgren verfolgt keine Absichten außerhalb der Erzählung, da ist keine Moral. Das unterscheidet "Bullerbü" von späten Werken der Autorin wie "Die Brüder Löwenherz", wo sie Gut gegen Böse antreten ließ.

Wer als Erwachsener nach Bullerbü zurückkehrt, etwa, weil er seinen Kindern die Geschichten vorliest, wird betäubt von Wehmut. Pippi Langstrumpf hatte "Krummelus-Pillen" eingenommen, um bloß nicht groß werden zu müssen. "Oh, wie langweilig muss es sein, wenn man groß ist!", ruft nun auch Lisa aus Bullerbü. Das Gegenteil ist der Fall, denkt man da, es geht doch alles viel zu schnell, wenn man erwachsen ist. Deshalb ist es so großartig zu sehen, wie Astrid Lindgren die Zeit einfach anhält. Ihr gelingt etwas Wunderbares: Sie befreit das Erzählen von der Tyrannei des Fortschreitenmüssens. Die Geschichten aus Bullerbü wirken wie in Bernstein gegossen, ewig jung, und man kann sogar so weit gehen, sie als Mythen zu bezeichnen.

Bullerbü ist das Wolkenkuckucksheim, in dem sich die Frage nach dem Sinn des Leben nicht stellt. Wer zu schreiben beginnt, öffnet immer einen Raum. Dieser Raum wird angefüllt mit den Empfindungen und Erinnerungen des Lesers, und die Räume von Astrid Lindgren sind zum Bersten voll damit. Beim Lesen von "Bullerbü" können Erwachsene durchaus Mitleid mit sich selbst bekommen.

Aber es gibt Hoffnung. Von dem walisischen Dichter Dylan Thomas stammt ein tröstliches Zitat: "The Ball I threw while playing in the Park / Has not yet reached the Ground." Das Geräusch des auf den Boden fallenden Balls ist das Signal für das Ende der Kindheit. Bisher war nichts zu hören. Die Tore haben sich noch nicht geschlossen. Solange es die Bullerbü-Bücher gibt, ist das Paradies nicht verloren.

(RP)
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