Schönste Flötentöne

Dorothee Oberlinger, 1969 in Aachen geborene und in Köln lebende Blockflötistin, gilt als heimliche Königin ihres Instruments. Seit 2004 ist sie Professorin für Alte Musik am Salzburger Mozarteum. Gelegentlich unternimmt sie aufregende Zeitreisen in die musikalische Moderne.

Köln Das Ding kostet ein paar Euro und gilt als kindgerechte Einstiegsdroge in die edle Welt der Instrumentalmusik. Doch meist wird der Konsument nicht zum Junkie, und das Ding landet in einer Schublade. Dort nimmt es wenig Platz weg, verhält sich unauffällig – und wird nicht selten vergessen. Blockflöten haben in der Regel vornehmlich pädagogischen Mehrwert. Schön klingen sie erst, wenn ein Könner sie spielt. Dann wird aus dem profanen Blasen ein gottgefälliges Hauchen, Pusten, Flüstern, Lispeln, Trompeten, Posaunen, Brummen, Schnäbeln. Die Blockflöte kann fast alles, sie ist so wandlungsfähig wie die menschliche Stimme.

Vor allem wenn Dorothee Oberlinger sie spielt. Die 1969 in Aachen in einer Pfarrersfamilie geborene und im Hunsrück aufgewachsene Künstlerin spielt Blockflöte wie eine Süchtige. Sie krallt sich Händel und tanzt mit ihm einen ganzen Abend durch; sie schäkert mit Vivaldi und gibt ihm Küsse, die eine Koloratur lang dauern; und in Bachs Brandenburgischen Konzerten ist sie der vibrierende Silberstreif über dem unschuldigen Streicherklang. Sie kann aber auch in einer vermeintlich belanglosen Sonate von Sammartini einen langsamen Satz finden, in den sie sich rettungslos verliebt und den sie in ein kleines Paradies entführt. Und auf ihrer neuen CD "Flauto Veneziano" kommt zwischendurch ein beinahe okkultes Stück Renaissance-Musik von Giorgio Mainerio – das berühmte, fast nach Séance klingende "Schiarazula Marazula". Das ist dann vollends kein 08-15-Sound mehr, sondern eine phantastische, mit heißem und kaltem Atem belüftete Szenerie.

In der Branche gilt Oberlinger als Primadonna ihres Instruments, doch für Allüren hat sie weder Sinn noch Zeit. Wer in der historischen Aufführungspraxis unterwegs ist, sollte nicht nur neues Repertoire entdecken. Er muss auch fortwährend darauf achten, dass Barockmusik nicht wie Meterware klingt. Ihre gründlich erdachte, aber spontan wirkende Lust an der klanglichen Variation, der musikalischen Finte und der zierlichen Sensation hat sie jedenfalls weit nach vorn gebracht: Seit 2004 leitet sie als Professorin am Mozarteum Salzburg das Institut für Alte Musik. Seit 2009 verantwortet sie die Arolser Barockfestspiele.

Die Vorstellung, die Otto Normalverbraucher von einer Barockspezialistin hat, stößt bei ihr an natürliche Grenzen. Die Künstlerin rennt nicht in Sandalen herum und hat so gar nichts Verstaubtes, Bücherwurmhaftes. Sie ist so spontan und erfrischend, wie ihre Interpretationen klingen – und wer ihr begegnet, könnte sie rein optisch eher für eine Hochspringerin halten. Um Rekorde geht es Dorothee Oberlinger aber mitnichten, sondern um Phantasie. Und die kann man nicht messen, sondern nur spüren.

Wer in Köln und in Salzburg lebt, zwischendurch die Welt bereist, konzertiert und Kurse gibt, muss gut organisiert und gründlich sein. Und gut in Form – dazu schläft Oberlinger früh und viel, betreibt Fitness und Gymnastik. Alle Texte für Programmheft oder Homepage schreibt sie selbst. Der Schreibtisch ist kein Fremdling: Schon ihr Studium hatte einen konventionellen Verlauf, mit Schulmusik und Germanistik an der Universität Köln. Nach dem ersten Staatsexamen schloss sie aber ein Blockflötenstudium in Köln, später in Amsterdam und Mailand an. Ihre Lehrer waren Günter Höller, Walter van Hauwe und Pedro Memelsdorff. Dann der Durchbruch: Im Jahr 1997 gewann sie den Wettbewerb "Moeck" in London, ein Jahr später gab sie ihr Solodebüt in der dortigen Wigmore Hall.

In der Welt der Blockflöte ist Dorothee Oberlinger nur selten solo. Sie tritt mit vielen internationalen Ensembles und Orchestern auf, etwa den Sonatori de la Gioiosa Marca, der Musica Antiqua Köln, der Academy of Ancient Music sowie verstärkt mit dem (von ihr 2002 gegründeten) Ensemble 1700. Im Jahr 2008 bekam sie den "Echo Klassik". Ihre Entdeckerfreude gilt auch der zeitgenössischen Musik; so wirkte sie an der CD "Touch" des Schweizer Pop-Duos "Yello" mit. Beim neuen Festival "Düsseldorf Festival" wird sie mit den Sonatori de la Gioiosa Marca und dem Barockfagottisten Sergio Azzolini eine neuerliche Zeitreise unternehmen und von Vivaldi flugs in die Moderne weitspringen: Beide Solisten haben bei den Komponisten Drake Mabry und Willy Merz Kompositionen in Auftrag gegeben.

Mal sehen, welche Flöten Frau Professor dabei haben wird – sie selbst liebt diese Qual der Wahl. Über 100 Instrumente hat sie daheim, in allen Lagen, Größen, Farben, einen exquisiten Fuhrpark, in dem sie alle Unikate liebt wie Kinder und dessen teuerstes Hölzchen stattliche 3500 Euro kostet. Da muss sie manchmal überlegen, wo sie jetzt was aufbewahrt: in der Wohnung am Salzburger Mirabellplatz oder derjenigen am Kölner Rudolfplatz. Doch wer im 17. Jahrhundert unterwegs ist und mit Händel oder Vivaldi per Du, der löst solche Fragen mit links. Und vermutlich ohne zu atmen.

(RP)
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