Kampf gegen Effizienzstreben Die neue Müdigkeit ist Punk und Rebellion

Düsseldorf · Die Kunst der Gegenwart ist bevölkert von tranigen Menschen zwischen Wachsein und Traum. Ihre Müdigkeit ist ein Akt der Rebellion: Sie verweigern sich dem allgemeinen Effizienzgebot.

 Yoko Ono und John Lennon und der „Bett-Frieden“.

Yoko Ono und John Lennon und der „Bett-Frieden“.

Foto: Ullstein

Das Buch ist ein Hit der Saison, und selten passierte in einem Weltbestseller so wenig wie in dem Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“. Die amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh hat ihn geschrieben, und sie erzählt darin von einer erfolgreichen Frau, die viele beneiden: Sie ist 26 Jahre alt, attraktiv, sie hat ein kleines Vermögen geerbt und ihren Abschluss an einer Elite-Uni gemacht. Sie wohnt im teuersten Viertel der Stadt und arbeitet in einer der tollsten Galerien des Landes. Sie ist drauf und dran, New York zu erobern. Doch: Das will sie gar nicht. Statt dessen sagt sie alles ab, lässt sich von einer Psychiaterin einen Medikamenten-Cocktail verschreiben und träumt auf dem Sofa herum. Zwölf Monate Nebel, ein Jahr lang Halbschlaf in der Metropole, die niemals schläft: „Nichts bereitete mir so viel Freude, schenkte mir so viel Freiheit und gab mir Macht.“

Figuren wie diese Frau begegnen einem auffallend oft in der aktuellen Kunstproduktion. In den Performances und Installationen von Anne Imhof, die für die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale von Venedig 2017 den Goldenen Löwen bekam, liegen zumeist junge Menschen herum, andere stehen versonnen und tranig da. In dem Film „Der traumhafte Weg“ der deutschen Regisseurin Angela Schanelec legen sich die Akteure unvermittelt auf den Boden und schließen die Augen. Radiohead-Sänger Thom Yorke schwärmt im Interview mit dem „Crack“-Magazin von der Wirkung des extremen Jetlag nach der Ankunft in Tokio – der Artikel trägt den Titel „Daydream Nation“.

Die Schriftstellerin Marion Poschmann („Die Sonnenposition“) beschreibt das Ich als „einen grauen Gegenstand, um den die Nebel glitten“. Und die 17 Jahre alte Sängerin Billie Eilish, die allerorten als Popstar der Stunde gehandelt wird, fragt im Titel ihres gerade erschienenen Albums, wohin wir eigentlich gehen, wenn wir einschlafen. Für das Plattencover hat sie sich auf eine Bettkante gesetzt, ihre Texte murmelt sie zumeist.

„Die Müdigkeit ist ein Signum unserer Zeit“, sagt Fabian Goppelsröder. Er ist Literaturwissenschaftler und Philosoph, und er hat soeben die theoretische Grundlage dieses Gegenwarts-Phänomens vorgelegt. Seine „Aisthetik der Müdigkeit“ erklärt die vor allem in der Kunst ausgelebte Sehnsucht nach dem Dämmerzustand als Kritik am Zeitgeist. Sie sei Gegenprogramm, Bestandteil einer Alternativkultur, „ein bisschen wie das Hippietum“. Sie werte Dinge und Gewohnheiten auf, die im Alltagsverständnis für das gelungene Leben abgewertet wurden. „Müdigkeit“, sagt der Literaturwissenschaftler, „birgt so betrachtet ein rebellisches Potenzial“. Sie sei Ausdruck einer Verweigerungshaltung. Das unentschiedene Dazwischen, der Transitzustand des Hineingleitens in den Schlaf als Gegenbewegung zu Effizienzgebot, Leistungsdenken, beschleunigtem Arbeiten und Omnipräsenz in den sozialen Medien.

Seit dem 19. Jahrhundert hat die Dauer des Nachtschlafs um durchschnittlich zwei Stunden und seit den 1970er Jahren um weitere 30 Minuten abgenommen. Seit 2005 gab es bei den 18- bis 25-Jährigen einen Anstieg an Depressionserkrankungen um 76 Prozent. Jeder sechste Studierende quält sich mit Phasen der Hoffnungslosigkeit, Resignation und innerer Leere. Der frühere Philosophie-Professor an der Berliner Akademie der Künste, Byung-Chul Han, hat bereits vor einigen Jahren einen aufsehenerregenden Essay geschrieben, der allgemein als Zustandsbeschreibung des Jetzt gelesen wurde: In „Müdigkeitsgesellschaft“ analysiert er den Burn-Out als Folge permanenter Überreizung.

Die Kulturgeschichte des Schlafes ist lang, Novalis, Proust, Iwan Gontscharow schrieben darüber. Doch der Schlaf ist längst seiner Unschuld beraubt und ökonomisiert worden. Das beste Beispiel ist das Buch „Die Schlaf-Revolution“ der Unternehmerin Arianna Huffington. Sein Untertitel „So ändern Sie Nacht für Nacht Ihr Leben“ deutet bereits an, dass es der Gründerin der Online-Zeitung „Huffington Post“ nicht um ein Lob des Winterschlafs geht. Sie bietet vielmehr eine Anleitung, wie man durch richtiges Schlafverhalten noch effizienter wird.

Tatsächlich geht es in den jüngst erschienen Kunstwerken denn auch nicht um das Schlafen an sich, sondern ausdrücklich um die kaum zu kontrollierende Twilight Zone zwischen Wachsein und Träumen. Was wir in diesen Denkfiguren erleben, ist also womöglich die nächste Phase der Normverweigerung, eine Art „Bed Peace“. So nannten John Lennon und Yoko Ono ihre legendäre Aktion, für die sie sich 1968 öffentlichkeitswirksam in Hotelbetten legten. Ihre Motivation war politisch, sie wollten ein Zeichen setzten und den US-Soldaten zurufen: „Bleibt im Bett, lasst euch nicht in den Vietnamkrieg schicken.“

Müdigkeit ist Punk, Lethargie Rebellion. So wird verständlich, dass die Hauptfigur des Romans „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ tatsächlich Freiheit und Macht empfindet, wenn sie mit schweren Lidern und von Müdigkeit gedrückt auf dem Sofa liegt. „Die Welt zeigt sich verschwommen in besonderer Intensität“, sagt Fabian Goppelsröder. Man kehre zurück zu einem sinnlicheren Weltverhältnis. Müdigkeit sei einend, weltvertrauend und utopisch, schreibt Peter Handke im „Versuch über die Müdigkeit“.

Der Zustand zwischen Wachsein und Schlafen ist nicht effizient zu gestalten oder zu optimieren. Der französische Denker Jean-Luc Nancy preist den tagträumenden Menschen in seiner Schrift „Vom Schlaf“ (2013) als „ein Selbst, das seiner innersten Bewegung zurückgegeben ist: die der Rückkehr in sich selbst“.

Unter dem Imperativ des 24/7 ist das Sowohl-als-Auch des schwindenden Bewusstseins offenbar der letzte Rückzugsort des Individuums.

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